Frankfurt am Main
Ursprung und Heimat der Degussa bis 2001
In der Wirtschafts- und Finanzmetropole Frankfurt am Main sind wegweisende Kapitel der Geschichte des heutigen Geschäftsfeldes Chemie von Evonik Industries geschrieben worden. 128 Jahre lang, bis zur Fusion der Degussa-Hüls AG und der SKW Trostberg AG zur neuen Degussa AG im Februar 2001, wurden die Geschicke des Unternehmens von Frankfurt aus geleitet.
Die Entstehung der Deutschen Gold und Silber-Scheideanstalt (ab 1980 Degussa AG) in Frankfurt ist eng mit der Geschichte der Stadt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbunden. Am 23. März 1841 beschloss der Rat der Freien Stadt Frankfurt, Friedrich Ernst Roessler als Münzwardein nach Frankfurt zu bestellen. Als Münzbeamter im Dienste der Stadt übertrug der Rat ihm die Verantwortung für die Prüfung von Feingehalt und Gewicht der in Frankfurt geprägten Münzen und beauftragte ihn zugleich, im Gebäude der städtischen Münze einen Scheidebetrieb für Edelmetalle einzurichten. Diese Edelmetallscheideanstalt bildete den Ursprung der Degussa in Frankfurt.
Am 2. Januar 1843 nahm Friedrich Ernst Roessler als selbständiger Unternehmer den Betrieb der Scheideanstalt auf. Der Betrieb in der städtischen Münze, für die Roessler Pacht und Sicherheitsleistungen erbringen musste, befand sich im Herzen Frankfurts auf einem Grundstück, das ab 1848 als Münzgasse 20 ausgewiesen wurde. Der Scheidebetrieb arbeitete nach dem Verfahren der Schwefelmetallscheidung, die darauf beruht, dass sich Silber in konzentrierter Schwefelsäure löst, Gold und Platin dagegen nicht. Bei diesem Verfahren fielen verschiedene chemische Nebenprodukte an, die Roessler in seiner Scheideanstalt weiter verarbeitete. Da die Räumlichkeiten in der Münze für die Scheidung und Verarbeitung schon bald zu wenig Platz boten, machte sich Roessler in Frankfurt auf die Suche nach einem neuen Produktionsstandort. Nach kurzzeitigen Zwischenlösungen fand er schließlich eine geeignete Liegenschaft in der Schneidwallgasse, in unmittelbarer Nähe der städtischen Münze.
Dort errichtete er 1860 ein dreigeschossiges Gebäude, in dem er ein chemisch-technisches Labor einrichtete. Diese Liegenschaften, damals als Schneidwallgasse 6 und Papageigasse 5 und 7 ausgewiesen, bilden noch heute das Herzstück des Evonik-Standortes in Frankfurt. 1863 ging dieser Betrieb auf den ältesten Sohn Hector Roessler über, der im gleichen Jahr die Produktion von Silbernitrat und später die von Cyankalium und weiteren Substanzen aufnahm und einen florierenden Chemikalienhandel begründete.
Als 1866 die Preußen in Frankfurt einmarschierten und die Stadt ihre politische Souveränität verlor, hatte das auch unmittelbare Folgen für das Roesslersche Unternehmen. Die vormals privat geführte Münzprägeanstalt in der Münzgasse wurde nun zu einer königlich-preußischen Behörde. Aus dem Frankfurter Unternehmer Friedrich Ernst Roessler wurde ein preußischer Beamter. Nachdem die Regierung die gepachteten Räume im Münzgebäude gekündigt hatte, verlegte Heinrich Roessler, der zweitälteste Sohn Friedrich Ernst Roesslers, den Edelmetallscheidebetrieb aus der Münze in das chemisch-technische Labor seines Bruders Hector an der Schneidwallgasse. Für dieses Labor entstand wiederum ein Fabrikneubau in der Frankfurter Gutleutstraße in der Nähe des Hauptbahnhofs. Die Fabrik befand sich auf einem Gelände, das bis zum Verkauf im Jahr 2001 im Besitz der Degussa verblieben ist.
Seit 1868 führten die Brüder Hector und Heinrich Roessler die Edelmetallscheideanstalt in der Schneidwallgasse unter dem Namen Friedrich Roessler Söhne, die damit eines der ältesten Industriebetriebe in Frankfurt war. Mehr als 100 Jahre blieb der Betrieb in der Innenstadt bis er 1972 nach Hanau-Wolfgang verlegt wurde.
Die Kapazitäten der Scheiderei in der Schneidwallgasse drohten nach 1871 an ihre Grenzen zu stoßen, als mit der Einführung einer reichseinheitlichen Währung große Mengen alter Münzen verarbeitet, also geschieden werden mussten und die Scheideanstalt einen entsprechenden Auftrag in Aussicht hatte. Den Brüdern Hector und Heinrich Roessler fehlte für dessen Abwicklung jedoch das Kapital, weil beispielsweise umfangreiche Sicherheitsleistungen zu erbringen waren. So gründeten sie am 28. Januar 1873 die Aktiengesellschaft Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt vormals Roessler. Die Kapitalbeschaffung war dringend geboten. Denn tatsächlich wuchs die Menge der zu scheidenden Münzen nach der Auftragserteilung sprunghaft an. Schon 1874 wurden in der Schneidwallgasse die zehnfache Menge früherer Jahre verarbeitet, 1878 waren es schließlich rund 800 Tonnen Münzgeld in einem Jahr. Auch mit den zeitweise eingeführten Nachtarbeiten waren die Mengen nicht mehr zu bewältigen, und so wurden rund um die alte Scheiderei in der Schneidwallgasse sukzessive Grundstücke zugekauft und bebaut. Schon 1875 wurden neue Gebäude nördlich und südlich der Scheiderei angeschlossen und gegenüber dem Hauptgebäude der alten Scheideanstalt entstand ein Neubau für Werkstätten, Wasch- und Ankleideräume sowie für eine Kantine.
Die Ausweitung des Handelsgeschäftes führte in den 1880er Jahren zur einer Aufstockung des Verkaufs- und Verwaltungspersonals. Deshalb entschied sich die Unternehmensführung zur Errichtung des ersten reinen Verwaltungsgebäudes der Degussa. 1888 zogen die Mitarbeiter in den Neubau an der Schneidwallgasse ein, an der ein zweigeschossiges Gebäude mit Großraumbüro, Saal und Galerie entstanden war. 17 Jahre später, 1905, ließ das Unternehmen zusätzlich ein großes neubarockes Verwaltungsgebäude an der Weißfrauenstraße errichten, das 1906 fertig gestellt wurde. Beide Gebäude fielen dem Bombenangriff vom 22. März 1944 zum Opfer.
In den 1920er und 30er Jahren wurden auf dem Areal der Degussa in der Frankfurter Innenstadt eine ganze Reihe von baulichen Erweiterungen umgesetzt, nachdem bereits 1911/12 neue Produktionsanlagen zur Edelmetallgewinnung und -verarbeitung in der Schneidwallgasse gebaut worden waren. 1921 entstand beispielsweise ein neues Labor an der Weißfrauenstraße, 1925 ein weiteres in unmittelbarer Nähe. 1935 ließ man die Schneidwallgasse baulich überbrücken, im gleichen Jahr wurden Vorder- und Hintergebäude an der Alten Mainzer Gasse eingerissen. Bis 1937 entstand dort ein neues Laboratorium. Dessen Torbogen, der frühere Eingang des Labors, steht noch heute im Westhof des Frankfurter Standortes und erinnert an die Ursprünge.
Unterm Hakenkreuz
Im Bestreben das wieder zu eng gewordene Firmenareal in der Frankfurter Innenstadt zu vergrößern, kaufte die Degussa im Zuge der so genannten Arisierungen 1934 und 1935 zwei Liegenschaften aus jüdischem Besitz: das Neptunhaus an der Ecke Weißfrauen-/Neue Mainzer Landstraße - dort steht heute das Degussa-Hochhaus - sowie ein zweites Grundstück an der Neuen Mainzer Straße. Der renommierte amerikanische Historiker Peter Hayes (Professor für Geschichte und Holocaust Studies an der Northwestern University, Evanston/Illinois) hat sich in seinem im September 2004 erschienenen Buch "Die Degussa im Dritten Reich - Von der Zusammenarbeit zur Mittäterschaft" in einem eigenen Kapitel mit dieser Thematik beschäftigt (vgl. auch „Degussa in der NS-Zeit“).
Die Degussa-Hauptverwaltung hatte schwere Zerstörungen erlitten. Die über Nacht obdachlos gewordenen Abteilungen wurden in Wächtersbach sowie innerhalb Frankfurts und in weniger betroffenen auswärtigen Degussa-Standorten untergebracht. Die gesamte Forschung ging nach Konstanz. Erst 1949 kam sie wieder zurück.
Aus Sicherheitsgründen hatte man bereits 1943 die Buchhaltung und alle Buchhaltungsunterlagen nach Idstein zwischen Frankfurt und Limburg ausgelagert. Die Jahre bis zur Währungsreform 1948 waren wie auch bei vielen anderen deutschen Industrie-Standorten eher durch einen reinen Überlebenskampf als durch ein planmäßiges Wachstum und Wirtschaften bestimmt. „Es konnte nicht viel mehr erreicht werden als die Beseitigung von Trümmern“, sagt ein Geschäftsbericht aus dieser Zeit.
Neubeginn auf Trümmerfeldern
Noch 1949 waren die Mitarbeiter in einem Behelfsbau an der Neuen Mainzer Straße untergebracht, dort, wo 1962 der so genannte Westbau entstanden ist. Erst 1950 konnten erste Teile eines neu errichteten Verwaltungsgebäudes bezogen werden. In den folgenden Jahren kam der Wiederaufbau an der Weißfrauenstraße zügiger voran. 1952 entstand der Handelshof, ein Verwaltungsgebäude an der Ecke Untermainkai/Neue Mainzer Straße und nur ein Jahr später, 1953, war das Degussa-Hochhaus an der Ecke Weißfrauenstraße/Neue Mainzer Straße bezugsfertig. Nach dem Fernmeldeamt und dem Direktionsgebäude der Bundesbahn war es damals der dritthöchste Profanbau in Frankfurt. 1956 wurde der Mainbau fertig gestellt, der das Gelände des Standortes zum Mainufer hin abschließt. In drei Bauphasen zwischen 1955 und 59 entstand schließlich das große Verwaltungsgebäude Ecke Weißfrauenstraße/Seckbächer Gasse.
Das Traditionshaus
Mit einem architektonischen Juwel rundete die Degussa 1955 ihr Areal an der Weißfrauenstraße zum Mainufer hin ab. Der Konzern kaufte von der Stadt Frankfurt das Haus am Untermainkai 4. Es ist eines der wenigen verbliebenen rein klassizistischen Häuser in Frankfurt und ein beispielhaftes Gebäude dieser Epoche. Nach einer stilgerechten Renovierung und Ausgestaltung dient das Haus heute als Rahmen für besondere Feierlichkeiten und als Gästehaus, in dem das Unternehmen schon Nobelpreisträger, Minister- und zwei Bundespräsidenten begrüßen konnte. Im Keller des Hauses befand sich bis Januar 2003 das in seiner Art nahezu einzigartige Münzkabinett der Degussa, das jetzt als Dauerleihgabe im Historischen Museum in Frankfurt zu sehen ist.
In der Konzernzentrale in der Frankfurter Innenstadt standen im Zuge der großen Fusionen von 1999 und 2001 weitreichende Veränderungen an. Als Folge der zweiten Fusion verlor Frankfurt seinen Status als Sitz der Konzernführung an Düsseldorf. Bis heute ist Frankfurt jedoch ein bedeutender Verwaltungsstandort.
Tradition im Wandel
In den 1960er Jahren erfolgte ein umfassender Ausbau der technischen Sparte Metall, so dass die Produktionskapazitäten in der Frankfurter Innenstadt bald an Grenzen stießen.
Der Vorstand zog 1967 die Konsequenzen und erwarb ein neues Gelände im Hanauer Stadtteil Wolfgang. Auch die verschärften Umweltauflagen sprachen gegen eine weitere Produktion im Frankfurter Stadtzentrum. Mit dem Beginn der 1970er Jahre setzte die Verlegung des Metallbetriebes und der Metallscheidung nach Hanau-Wolfgang ein. Als schließlich 1978 mit der Glanzgoldherstellung die letzte Produktion nach Wolfgang umgezogen war, endete in Frankfurt ein Kapitel Industriegeschichte. 1979 wurde das Gebäude der Scheideanstalt, im Volksmund noch „die Münz“ genannt, abgerissen, um einem neuen Verwaltungsgebäude Platz zu machen.
Der Verwaltungsneubau war dringend notwendig geworden. Die Nachkriegsgebäude gaben schon seit längerem nicht mehr genügend Raum für die insgesamt rund 1.850 Angestellten. Der Neubau wurde im Oktober 1981 mit den Ausschachtungsarbeiten für eine dreigeschossige Tiefgarage begonnen. Nach Abschluss mehrerer Bauphasen zogen die Mitarbeiter im Oktober 1984 in die neue Hauptverwaltung ein. Dieser Kreuzbau befand sich im Zentrum des Frankfurter Standortes, genau an der Stelle, an der das Unternehmen mit der vormaligen Scheideanstalt seinen Grundstein gelegt hatte.
Nach 142 Jahren wurde der Standort Frankurt, die ehemalige Hauptverwaltung der Degussa AG an der Weißfrauenstraße geschlossen. Das Gelände wird von der Deutschen Immobilien Chance AG (DIC) weiterentwickelt, die den Standort 2005 gekauft hatte.
Im Sommer 2010 zogen die letzten Mitarbeiter in den Industriepark Wolfgang, Hanau, in ein extra hierfür errichtetes neues Gebäude.
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