DEGUSSA IN DER NS-ZEIT
Im Frühjahr 1998 beauftragte der Vorstand der vormaligen Frankfurter Degussa AG den amerikanischen Historiker Professor Peter Hayes, die Geschichte des Unternehmens zwischen 1933 und 1945 in einer unabhängigen Studie zu erforschen.
Peter Hayes, Professor für Neuere Geschichte und Holocaust-Studien an der Northwestern University in Chicago hatte sich u.a. durch sein preisgekröntes Buch über die I.G. Farbenindustrie im Dritten Reich ("Industry and Ideology. IG Farben in the Nazi Era", Cambridge University Press, 1987. Neuauflage mit einem neuen Vorwort 2001) empfohlen. Die Degussa sicherte Professor Hayes vertraglich zu, keinen Einfluss auf seine Forschung zu nehmen, keinerlei Archivdokumente zurückzuhalten und diese nach Abschluss der Arbeit allen ernsthaften Wissenschaftlern zugänglich zu machen. Professor Hayes behält das Copyright für sein Werk. Das Buch „Degussa im Dritten Reich – Von der Zusammenarbeit zur Mittäterschaft“ ist keine offizielle Unternehmenspublikation, sondern eine in völliger wissenschaftlicher Unabhängigkeit entstandene Forschungsarbeit eines renommierten amerikanischen Historikers.
Die Vorgeschichte bis 1933
Die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt vormals Roessler, ab 1980 kurz Degussa AG, wurde im Januar 1873 als Aktiengesellschaft in Frankfurt am Main gegründet. Sie etablierte sich schnell als erfolgreiches Unternehmen im Bereich Edelmetalle sowie Produktion und Vertrieb von chemischen Produkten. Hauptsächlich auf die Herstellung von Zwischenprodukten spezialisiert, blieb der Name des Unternehmens bei den Endverbrauchern bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts weitgehend unbekannt.
Als nach dem Ende des Ersten Weltkrieges alle ausländischen Beteiligungen verloren gingen, büßte die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt zunächst stark an Wert ein. 1930 übernahm der erfahrene Kaufmann das neu eingerichtete Amt des Vorstandsvorsitzenden der Degussa.
Unter seiner Ägide, die bis 1939 währte, wurden vermehrt Erlöse in Sachwerte investiert, Anlagen erweitert, Beteiligungen vergrößert und neue Firmen angekauft. Aufgrund dieser Unternehmenspolitik überstand die Degussa weitgehend unbeschadet Inflation und Weltwirtschaftskrise. Trotz allem aber blieb das Unternehmen verwundbar, was sich vor allem daran zeigte, dass es die I.G. Farbenindustrie AG an einigen Unternehmungen (z.B. Degesch, Österreichische Chemische Werke) beteiligen musste. Die I.G. Farben waren zu Beginn der 1930er Jahre ein gewaltiger, potenziell erdrückender Konkurrent. Darüber hinaus gelang es der Degussa erst 1934, die massive Abhängigkeit von ihrem Großkunden, der Firma Henkel, deutlich zu reduzieren. Diese Düsseldorfer Firma bezog in großen Mengen den Waschmittelzusatz Natriumperborat.
Noch bedeutsamer aber war ab 1933 der Aufbau einer „gelenkten Marktwirtschaft“ durch die Nationalsozialisten mit den vorgegebenen staatlichen Zielen "Arisierung", Autarkie und Aufrüstung. Die Verantwortlichen der Degussa glaubten, diese Vorgaben erfüllen zu müssen, wenn das Unternehmen weiterhin erfolgreich arbeiten wollte.
Die Firma, die NSDAP und das Regime
Als die Nationalsozialisten im Januar 1933 an die Macht kamen, war keiner der neun Degussa-Vorstände Mitglied der NSDAP. In der mittleren Leitungsebene befanden sich jedoch durchaus Parteimitglieder. Die Herren in Vorstand und Aufsichtsrat nahmen die Partei zunächst nicht besonders ernst. Da ihr oberstes Ziel jedoch das weitere Wachstum der Degussa war, versuchten sie, sich allmählich mit der neuen Regierung zu arrangieren. Dabei folgten sie der Devise, die der Vorstandsvorsitzende Ernst Busemann 1937 ausgab: „Es hat keinen Sinn, gegen den Strom zu schwimmen.“
Ein Teil des Arrangements bestand darin, dass ein Vorstandsmitglied offiziell in die Partei eintreten sollte. Die Wahl fiel auf Hermann Schlosser, der im Ersten Weltkrieg Soldat gewesen war und seither, wie viele seiner Generation, eine romantisierende Auffassung von Frontkämpfertum, Pflicht und Treue vertrat. Schlossers Aufnahmeantrag in die NSDAP wurde 1933 jedoch abgelehnt, da er Freimaurer war. Erst als er 1939, nach Busemanns Tod, Vorstandsvorsitzender der Degussa wurde, nahm die Partei ihn per Gnadenerlass auf. Die politische Einstellung derer, welche die Degussa zwischen 1933 und 1945 lenkten, reichten von großbürgerlichen Konservativen bis zu überzeugten Nationalsozialisten mit zum Teil niedriger Parteinummer.
Den sechs jüdischen Aufsichtsratsmitgliedern wurde 1933 freigestellt, direkt ihren Abschied zu nehmen oder nach Beendigung der Amtszeit auszuscheiden. Der letzte, Richard Merton, Aufsichtsratsvorsitzender der Metallgesellschaft, ging 1938.
Dieses Engagement für Juden war vor allem persönlich und nicht politisch motiviert. Die Verantwortlichen der Degussa wussten, dass sie Unternehmensinteressen verfolgen konnten, solange sie Rücksicht auf die staatlichen Prioritäten nahmen.
Die Zusammenarbeit zwischen der Degussa und Vertretern der Regierung gestaltete sich nicht immer, aber doch weitgehend spannungsfrei. Mit taktischer Voraussicht und ihrer Bereitschaft zur Kooperation, aber auch durch einige glückliche Zufälle gelang es der Degussa, sich der von der NSDAP angestrebten indirekten Kontrolle über das Unternehmen durch Parteimitglieder in der Führungs- und Mitarbeiterebene zu entziehen.
"Arisierungen"
Zu der Kooperation mit den Nationalsozialisten gehörten auch die „Arisierungen“, also der Erwerb bzw. Übergang jüdischen Eigentums an „rein deutsche“ Unternehmen und Personen. Die Degussa übernahm zehn Unternehmen (sieben in Deutschland, drei im sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren), drei Beteiligungen, erwarb vier umfangreiche Aktienpakete sowie zehn Grundstücke in Frankfurt, Köln, Hamburg, Berlin, Wien und Prag und kaufte zuletzt im August 1944 ein konfisziertes Patent.
Zu den früh „arisierten“ Unternehmen gehörten die Pharmafirma Chemisch-Pharmazeutische Werke Bad Homburg AG, Frankfurt, sowie die Degea AG, Berlin, die später als Auergesellschaft firmierte, und die Bonner Firma Dr. L.C. Marquart.
Bei den Übernahmen läßt sich ein zeitliches Muster aufzeigen: die ersten „Arisierungen“ vollzog die Degussa weitgehend ohne größere Ausübung von Druck. Die Verkäufer, zumeist langjährige Geschäftspartner, nahmen bereits im Frühjahr 1933 ihrerseits Kontakt auf, nachdem sie durch Repressalien seitens des Staates und der NSDAP in eine aussichtslose Lage manövriert worden waren. Die Degussa bot daraufhin Preise an, die Peter Hayes für die Zeit von 1933 bis 1937 als kaufmännisch „fair“ bezeichnet. Für die "arisierte" Firma Dr. L.C. Marquart wurde bei der Kreisleitung die Erlaubnis erwirkt, weiterhin jüdische Mitarbeiter zu beschäftigen, da man auf deren Know-how angewiesen war.
Ab 1938 kam es laut Professor Hayes jedoch auch bei der Degussa zu Übernahmen auf „fast herzlose und auf eigene Interessen bedachte Art und Weise“. Insgesamt ist jedoch im Zusammenhang mit den „Arisierungen“ weniger ausschlaggebend, ob und ab wann die Vertreter der Degussa eigenen Druck ausübten, sondern vielmehr, dass sie bereitwillig von anti-jüdischen Maßnahmen profitierten.
Aufrüstung und Autarkie
Der wirtschaftliche Aufschwung des Dritten Reiches basierte nach 1935 in erster Linie auf den beiden Säulen Rüstung und Autarkie. Letztere sollte Deutschland von Importen weitgehend unabhängig machen. Die Degussa war ab 1938, wie viele andere Unternehmen, fest in das nationalsozialistische Wirtschaftssystem eingebunden, ihre Manager konnten nur noch bedingt frei entscheiden. Das Regime lenkte sie mit einer Mischung aus Druck und Anreizen. Es förderte die Produktion, schuf mit staatlichen Mitteln Absatzmärkte und dirigierte die Ressourcen. Der Staat schränkte den Spielraum der Degussa-Leitung erheblich ein – ein besonders deutliches Beispiel dafür ist die Produktion von Aktivruß. Dieser war Hauptbestandteil strapazierfähiger Gummireifen und daher für die Nationalsozialisten von großem Interesse, da dieses Produkt ihren Autarkiebestrebungen entgegenkam.
Zur Erweiterung ihrer Produktpalette hatte die Degussa 1932 eine kleine Flammrußfabrik in Kalscheuren bei Köln erworben. Auf Drängen des Reichswirtschaftsministeriums nahm man Versuche zur Herstellung eines aktiven Gasrußes auf, um den auf diesem Sektor dominierenden USA Konkurrenz zu machen. Die Entwicklung gelang 1934 und wurde ein geschäftlicher Erfolg. Umgehend versuchte der Staat, Ausmaß und Form des Wachstums dieses Bereichs zu bestimmen. Auch wenn die Degussa primär nicht an einer Stärkung ihres Gasrußbereichs oder einer Beteiligung an einem Konsortium der Reifenindustrie interessiert war, folgten die Manager. Die Produkte der Degussa waren vielseitig einsetzbar – auch für die Rüstungsproduktion. So war Natriummetall ein Zwischenprodukt für die Herstellung von Flugzeugbenzin. Acetoncyanhydrin wurde benötigt bei der Produktion von PLEXIGLAS , das die Darmstädter Firma Röhm & Haas entwickelt hatte und aus dem auch Flugzeugkanzeln gebaut wurden.
Die von der Degussa 1934 "arisierte" Auergesellschaft, Berlin, begab sich noch weit stärker in Abhängigkeit. Bereits seit dem Ersten Weltkrieg hatte dieser Hersteller von Gasmasken zahlreiche Militäraufträge angenommen und forcierte die Verbindung nach 1933 weiter. Aufgrund dieser monostrukturellen Ausrichtung auf dem Rüstungssektor geriet Auer in Konflikt mit der Frankfurter Muttergesellschaft.
Letztlich führten die Anforderungen des Vierjahresplans dazu, das sowohl die Degussa als auch die I.G. Farbenindustrie AG wie viele andere Unternehmen am Ende der dreißiger Jahre knapp bei Kasse waren. Immer gewaltigere, vom Regime geforderte Investitionen, ließen die Gewinne zusammenschmelzen.
Edelmetalle für das Reich
Als die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten, lief das Edelmetallgeschäft der Degussa aufgrund der danach eingeführten Devisenbewirtschaftung schleppend. Da die Reichsmark kaum konvertiert werden konnte und die Reichsbank das Gold hortete, arbeiteten die Scheideanstalten der Degussa bis 1938 weit unter ihrer Kapazität. Dies änderte sich gegen Ende des Jahres mit der sogenannten „Edelmetallaktion“. Nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 entschied die Reichsregierung, alles Gold, Silber und Platin der jüdischen Bevölkerung zu beschlagnahmen. Es sollte als „Sühnegeld“ für die Schäden der sogenannten Reichskristallnacht dienen. Juden mussten ihr Edelmetall bei den staatlichen Pfandhäusern abliefern.
Formal wurde ihnen eine Entschädigung gezahlt, doch diese ging auf gesperrte Konten, die der Treuhänder, das Reich, einzog, sobald die vormaligen Besitzer auswanderten oder deportiert wurden. Von den Pfandhäusern gelangte das Edelmetall an die Scheidereien. Diese verarbeiteten und veredelten die Metalle und schickten das entsprechende Gewicht in Barren unter Abzug der Scheidegebühr und eines geringen Gewinns an die Reichsbank, oder sie lieferten die Metalle auf Anordnung des Regimes an andere Unternehmen. Da die Degussa die bedeutendste Edelmetallscheiderei in Deutschland war, konnte sie der Reichsbank bessere Konditionen bieten als alle anderen und erhielt zahlreiche Scheideaufträge.
Auch bei der Ausraubung der Juden in von Deutschland besetzten Gebieten zwischen 1940 und 1945 war die Degussa dem Regime als einer der wesentlichen Edelmetallverarbeiter nützlich. Dabei agierte sie überaus gewinnorientiert und die Verantwortlichen machten sich keine Gedanken über die Herkunft der Edelmetalle. Die Berliner Scheiderei der Degussa erhielt direkte Lieferungen von Zahngold aus dem Ghetto Lodz. Im Grunde war die Anlieferung und Verarbeitung von Dentalgold nichts Ungewöhnliches, da dies zu den Aufgabengebieten der Scheiderei zählte. Wohl aber kamen Lieferungen zum Teil in einem Zustand an, der eindeutige Hinweise auf die Herkunft gab. Allerdings waren viele Lieferungen auch in bereits geschmolzenem Zustand, um Diebstähle während des Transportes zu verhindern.
Die Degussa nahm an der Ausplünderung von Juden nicht allein deshalb teil, um schnelle Gewinne zu machen. Sie erwartete vielmehr Folgeaufträge und hatte vermutlich Furcht vor Sanktionen, die eine Verweigerung vielleicht nach sich gezogen hätte. So handelten sie nach dem Motto: „Wenn wir es nicht tun, tut es ein anderer."
Weil sich die Degussa nicht verweigerte, kam sie in den Genuss eines Scheideauftrags, der weitaus größer war als die vorangegangenen. Dieser Auftrag stzte 1940 nach den Siegen im Westen ein und umfasste die geraubten staatlichen und privaten Edelmetallbestände aus den besetzten Ländern wie Belgien, Frankreich sowie auch die aller Staaten, die im östlichen Europa von den deutschen Truppen okkupiert wurden. Die gesamte Edelmetallthematik ist Inhalt einer weiteren Studie, welche die Degussa in Auftrag gegeben hat: Der Wirtschaftshistoriker Dr. Ralf Banken, Köln/Frankfurt, untersucht die Mechanismen der Devisenbewirtschaftung im Dritten Reich und beleuchtet dabei vor allem die Rolle der Degussa als größte Edelmetallscheiderei. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden Ende 2008 veröffentlicht.
Zwangsarbeit
Zwischen 1939 und 1944 beschäftigte die Degussa Zivilarbeiter, Kriegsgefangene, aber auch Häftlinge aus Ghettos und Konzentrationslagern als Zwangsarbeiter. Sie wurden zum größten Teil von staatlichen Stellen vermittelt bzw. zugewiesen. An diese Stellen musste im Gegenzug ein Großteil des Lohnes entrichtet werden. Der Hintergrund war stets gleich: Aufgrund des Krieges waren immer höhere Produktionsmengen erforderlich, zugleich wurde der Mangel an deutschen Arbeitern aufgrund von Einberufungen immer größer. Zwar versuchte auch die Degussa, statt dessen Frauen zu beschäftigen, aber diese durften keine gefährlichen Arbeiten übernehmen. Als mehr als die Hälfte aller deutschen Frauen berufstätig waren, verhinderte die Regierung weitere Einstellungen, da sie um die Moral in der Heimat wie an der Front fürchtete. Der Einsatz fachlich nicht genügend ausgebildeter Mitarbeiterinnen wirkte sich außerdem negativ auf die Qualität der Produkte aus. Zudem stiegen die Kosten, nicht zuletzt wegen der zahlreichen verordneten Überstunden.
Wie Peter Hayes feststellt, waren die ersten Zwangsarbeiter – zumeist polnische oder französische Kriegsgefangene – für die Degussa nicht wesentlich billiger als reguläre Facharbeiter. Kosten verursachten die Beschaffung von Unterkünften, die Verpflegung und auch die Bewachung. Der einzige wirkliche "Vorteil" bestand in den entfallenden Sozialabgaben. Im allgemeinen war die Zahl der zugewiesenen Zwangsarbeiter nicht konstant, sondern schwankte zum Teil erheblich, da Kontingente auch wieder abgezogen wurden. Ab 1942 bildeten russische Kriegsgefangene oder aus dem Osten Verschleppte das Gros der Zwangsarbeiter in Deutschland. Der Staat verdiente an ihnen, da er mehr als die Hälfte des ohnehin geringen Verdienstes einzog. Im Falle der sogenannten Ostarbeiter kam noch eine spezielle Abgabe hinzu.
In den großen Werken der Degussa wurden Zwangsarbeiter im gleichen Umfang beschäftigt wie in den meisten deutschen Industrieunternehmen. In den kleineren Degussa-Werken war ihr Anteil an der Gesamtbelegschaft eher höher. 1943 bestand ca. ein Viertel der Belegschaft der Degussa aus Zwangsarbeitern, 1944 war es sogar mehr als ein Drittel. Und dennoch blieb die Zahl der zugewiesenen Arbeiter für den Bedarf der Degussa zu gering: entgegen aller Erwartung war die Gesamtzahl begrenzt und da die Degussa nicht grundsätzlich zu jenen Unternehmen zählte, die eine „kriegsentscheidende“ Produktion nachweisen konnten, erhielt sie häufig weniger Arbeiter, als sie anforderte.
Auch die Erhöhung der Arbeitszeit auf 60 Stunden für die Gesamtbelegschaft konnte diesen Mangel nicht wettmachen. 1943 monierten Betriebsleiter der Degussa außerdem, dass die Zwangsarbeiter immer häufiger Einblick in technische Abläufe und geheime Betriebsverfahren erhielten. Zugunsten einer Sicherung der wehrwirtschaftlichen Produktion aber musste die Führung der Degussa, wie auch die anderer Unternehmen, diese Bedenken ignorieren. Das Ende der Siege der Wehrmacht bedeutete zugleich eine geringere Zahl an Verschleppten und zusätzlichen Zwangsarbeitern. Viele bereits Zwangsrekrutierte aus dem Westen - Franzosen, Belgier, Niederländer - flohen bei Gelegenheit über die Grenzen.
Die Behandlung der Zwangsarbeiter war sehr davon abhängig, welchen Rang ihre Nationalität in der NS-Rassenideologie einnahm. Zunächst wurden viele in Gaststätten oder Pensionen untergebracht, danach zunehmend in Lagern.
Nach der Niederlage der deutschen Wehrmacht bei Stalingrad im Winter 1943 aber trat eine deutliche Verschlechterung für alle Zwangsarbeiter ein. Ihre Lager glichen eher Gefängnissen mit Ausgangssperre und Disziplinierungsmaßnahmen. Jenen, die in Ghettos oder Konzentrationslagern rekrutiert wurden, erging es noch schlechter.
Die Degussa setzte Zwangsarbeiter aus Ghettos und Konzentrationslagern in vier Werken im Osten des Reiches ein: in den Fabriken der "arisierten" Auergesellschaft in Oranienburg und Guben sowie auf den Baustellen der neuen Werke in Fürstenberg/Oder und Gleiwitz in Oberschlesien. Der Baubeginn der beiden letztgenannten Werke hatte sich 1941 erheblich verzögert, da es keine Fremdarbeiter, geschweige denn reguläre Arbeiter gab, aus denen man einen Bautrupp hätte zusammenstellen können. So erklärten sich die Leiter der Projekte einverstanden, Menschen aus Konzentrationslagern oder Ghettos einzusetzen. Die Arbeiter auf der Fürstenberger Baustelle stammten aus dem Ghetto Lodz und unterstanden der SS. Die Degussa zahlte an die SS nicht nur für die Versorgung der Arbeiter, sondern auch für die Unterkünfte, die Infrastruktur und die Wachmannschaft. Aufgrund dieser Kosten und der Tatsache, dass das Werk nicht fertiggestellt wurde, ließ sich kein Gewinn erwirtschaften.
Für die Auergesellschaft sind Auskünfte über Zwangsarbeitereinsätze spärlich, da kurz vor oder nach dem Einmarsch der Roten Armee in Berlin ein Großteil der Akten vernichtet wurde. Fest steht, das die aus dem Osten stammenden Zwangsarbeiter unter sehr schlechten Bedingungen lebten und einige von ihnen im Betrieb ums Leben kamen. Weitere starben während der schweren Luftangriffe 1945 auf Berlin.
In Gleiwitz, wo jüdische Männer und Frauen aus Auschwitz eingesetzt wurden, forderten die schweren Außenarbeiten ebenfalls Opfer. Gleiwitz wurde Ende 1944 zu einem Außenlager von Auschwitz. Dies zog einerseits eine schärfere Bewachung der Arbeiter nach sich, andererseits aber erfüllte sich die Hoffnung des Werksleiters auf eine bessere Versorgung mit Nahrungsmitteln – zumindest kurzfristig. Dann aber drohte denen, die unqualifizierte Arbeit leisteten, die Deportation.
Peter Hayes kommt zu dem Schluss, dass die Degussa Zwangsarbeiter, zumal jüdische KZ-Häftlinge, nicht wegen des geringen Preises einsetzte. Es waren keine anderen Arbeitskräfte verfügbar und das Unternehmen wollte sich den Forderungen des Reichs bezüglich der steten Steigerung der Produktionsmengen nicht widersetzen.
Degesch und Zyklon B
Das Pestizid Zyklon B wurde zwischen 1939 und 1945 in erster Linie zur Begasung militärischer Unterkünfte und Vorräte, von Uniformen, Fahrzeugen, Schiffen oder zur Schädlingsbekämpfung in Zwangsarbeiterbaracken verwendet. Zugleich aber missbrauchte die SS ca. 1 Prozent der hergestellten Menge dieses Stoffes zur Tötung von etwa einer Million Menschen.
Cyanwasserstoff, der Hauptbestandteil von Zyklon B und besser bekannt als Blausäure, wurde erstmals gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Begasung von Ungeziefer eingesetzt. Während des Ersten Weltkriegs wurde der Technische Ausschuss für Schädlingsbekämpfung (TASCH), gegründet, der dem Kriegsministerium unterstand. Dieser entwickelte ein Blausäuregas, das an der Front insbesondere die überhand nehmenden Läuse vernichten sollte, die schwere Krankheiten verursachten. Aus dem TASCH, der u.a. mit Verfahren der Degussa arbeitete, ging 1919 die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung m.b.H. (Degesch), Frankfurt, hervor. An dieser waren neben der Degussa zunächst zahlreiche Firmen beteiligt, die ihre Anteile bis 1922 an die Degussa verkauften. Im gleichen Jahr erwarb die Degesch ein von ihrem Geschäftsführer Walter Heerdt entwickeltes Verfahren, mit dem das hochgiftige Gas Cyklon (ein Akronym für die Hauptbestandteile Cyan- und Chlorverbindungen) in baumwollartigen Kügelchen eingeschlossen wurde. Sobald diese mit Luft in Kontakt kamen, entstand das Endprodukt Zyklon B.
Bis 1936 waren die Dessauer Werke für Zucker und Chemische Industrie die alleinigen Hersteller dieses Pestizids. Die benötigte Blausäure stammte von der Dessauer Schlempe GmbH, die den hochgiftigen Stoff aus den Abfällen der Zuckerrübenverarbeitung (Schlempe) gewann. Neben dem Erfinder des Verfahrens, Julius Bueb, waren die Dessauer Werke und die Degussa an der Schlempe GmbH beteiligt. Der Stabilisator des Gases stammte aus dem Uerdinger Werk der I.G. Farbenindustrie AG, während die Firma Schering einen Warnstoff lieferte. Die Degussa kaufte das fertige Produkt von den Dessauer Werken, ab 1936 auch von den Kaliwerken im tschechischen Kolin und verkaufte es dann an die Degesch weiter.
Bereits 1925 war eine interne Umstrukturierung der Degesch erfolgt. Um Kosten zu sparen, vergab die Degesch die Vertriebs- und Anwendungsrechte für Zyklon B an zwei Firmen: die eine war die neugegründete Heerdt & Lingler GmbH (Heli), Frankfurt, die andere die Tesch & Stabenow GmbH (Testa), Hamburg. An beiden Firmen war die Degesch beteiligt (1942 verkaufte sie ihre Anteile an der stets nach Unabhängigkeit strebenden Testa). Die beiden Vertriebsfirmen teilten sich den Markt mit der Elbe als Grenze. Die Testa war darüber hinaus der Exklusivlieferant für das deutsche Militär und die SS. Die Degesch war die Schnittstelle zwischen Dessau und den Vertriebsgesellschaften und fungierte als Abrechnungsstelle. Ihre Einnahmen stammten aus den Verkäufen und Dividenden der Vertretungen, von ausländischen Lizenzen und Direktexporten.
Um die Konkurrenz auf dem Schädlingsbekämpfungsmarkt aufzufangen, musste die Degussa 1930 und 1931 Degesch-Anteile an die I.G. Farbenindustrie AG (42,5 Prozent) sowie die Essener abgeben (15 Prozent). Die Degesch vertrieb nun eine Vielzahl von Pestiziden, ihre Geschäftsführer stammten weiterhin von der Degussa, die nunmehr bis Kriegsende eine Minderheitsbeteiligung von 42,5 Prozent hielt. Aufgrund ihrer Betriebsgröße und der Absatzmengen war die Degesch für die Degussa eher von sekundärer Bedeutung. Die Gewinne aus dem Zyklon B-Vertrieb stammten bis 1938 hauptsächlich aus dem Ausland. Nach Kriegsbeginn avancierten Wehrmacht und SS zu Großkunden der Testa – nicht nur Soldatenunterkünfte, auch die Baracken der Konzentrationslager mussten entwest werden.
Die Frage, ob Verantwortliche der Degussa wußten, dass Zyklon B ab September 1941 zur Ermordung von Menschen eingesetzt wurde, läßt sich nicht mit letzter Sicherheit beantworten. Fest steht, dass Bruno Tesch, der Geschäftsführer der Testa, seit Anfang 1942 davon Kenntnis hatte – er wurde deshalb von den Briten angeklagt und 1947 gehängt.
Degesch-Geschäftsführer Dr. Gerhard Peters war seit Beginn seiner Karriere eng mit dem Produkt Zyklon B verbunden. Er war nicht nur Parteimitglied, sondern trat auch öffentlich für die Ziele des Nationalsozialismus ein. Als ihm 1943 der SS-Obersturmführer Kurt Gerstein berichtete, dass Menschen Opfer des Schädlingsbekämpfungsmittels würden, ließ Peters dennoch weiterliefern – direkt nach Auschwitz. „Er machte eben mit“, wie es lapidar in Gerichtsprotokollen hieß. Keines der Vorstandsmitglieder der Degussa sagte jemals aus, von Dr. Peters über die Morde durch Zyklon B informiert worden zu sein. Keine der erhaltenen Unterlagen kann dies widerlegen.
Anhand der Verkaufsmengen lassen sich keine schlüssigen Beweise finden, da nachweislich nur Bruchteile des Zyklon B zur Ermordung von Menschen benötigt wurden. Außerdem wurde festgestellt, dass die Degussa aus den Zyklonverkäufen oder der Dividende der Degesch keine übermäßigen Gewinne erzielte.
Es scheint jedoch trotz allem unwahrscheinlich, dass Dr. Gerhard Peters die Degesch ohne Kontrolle durch das Degussa-Management führte. Als Dr. Peters nach dem Krieg vor einem deutschen Gericht angeklagt und zu einer Zuchthausstrafe verurteilt wurde, leistete ihm die Degussa durch ein Vorstandsmitglied Rechtshilfe. Zudem bot das Unternehmen die Zahlung einer Kaution an, um Dr. Peters während der Berufungszeit vor der Haft zu bewahren und beschäftigte ihn in einem Werk. Dr. Gerhard Peters wurde 1955 in einem Revisionsprozess freigesprochen. Vorstandsmitglieder der Degussa wurden niemals angeklagt. Sie durchliefen nach dem Krieg die damals übliche Entnazifizierung, wurden als Mitläufer eingestuft und kehrten Ende der 1940er Jahre in ihre Positionen zurück. Durch die Nürnberger Prozesse ordnete die Öffentlichkeit die Themen Degesch und Zyklon B lange Zeit ausschließlich der sich in Liquidation befindlichen I.G. Farbenindustrie AG zu.