Die Geschichte der vormaligen Degussa AG
Die Degussa AG (Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt vormals Roessler) bis 2007
Anfänge als Münzscheiderei
Die Anfänge der vormaligen Degussa AG reichen bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Im Jahr 1843 richtete der Leiter der Frankfurter Münzprägeanstalt, Friedrich Ernst Roessler, auf Wunsch der Stadt im Münzgebäude eine Edelmetallscheideanstalt ein. Darüber hinaus ließ Roessler unweit der Münze auf dem Gelände des heutigen Evonik-Standorts ein chemisch-technisches Labor installieren. Dort wurden die Nebenprodukte der damals gebräuchlichen Schwefelsäurescheidung - Silbernitrat und Cyansalze - verarbeitet. Als Frankfurt 1866 seine politische Selbständigkeit infolge des preußisch-österreichischen Krieges verlor, wurde Friedrich Ernst Roessler preußischer Beamter. Gleichzeitig zog er sich aus dem Scheidegeschäft zurück. Den Scheidereibetrieb übernahmen seine beiden ältesten Söhne Hector und Heinrich - beide studierte Chemiker. Sie verlegten die Scheideanstalt in das chemisch-technische Labor und führten beide Geschäftszweige als Firma Friedrich Roessler Söhne weiter.
Die Gründung der Deutschen Gold- und Silber-Scheideanstalt
Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 erfolgte die Vereinheitlichung der Währung auf Mark und Pfennig. Die Münzen der ehemaligen deutschen Kleinstaaten wurden damit außer Kurs gesetzt. Für die Übernahme der anfallenden, umfangreichen Menge Münzen zur Scheidung, verlangte die Reichsregierung von den Brüdern Roessler Sicherheitsleistungen. Diese konnten nur durch Umwandlung der Edelmetallscheideanstalt in eine Aktiengesellschaft erbracht werden.
Und so fungierten mehrere Banken im Januar 1873 als Gründer der Aktiengesellschaft Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt vormals Roessler. Hector und Heinrich Roessler wurden zu deren ersten Direktoren bestellt. Der umständlich lange Firmenname führte dazu, dass das neue Unternehmen über Jahrzehnte nur als "Scheideanstalt" bezeichnet wurde. In den 1930er Jahren bediente man sich zunehmend der Kurzbezeichnung Degussa (nach der Telegrafenadresse). Erst 1980 wurde Degussa mit dem Zusatz Aktiengesellschaft als neuer Firmenname ins Handelsregister eingetragen.
Erste neue Produkte und Erweiterungen
Nach dem Abschluss der großen Münzscheidungen entwickelte die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt 1879 ein eigenes Verfahren zur Herstellung von Glanzgold. Dieses dient der feuerfesten Dekoration von Porzellan und Glas. Der weltweite Erfolg der Erfindung legte den Grundstein für den Geschäftsbereich Keramische Farben, den die Degussa 1993 in die Cerdec AG ausgliederte. Dieses Unternehmen wurde zum 1. Januar 2000 mit den Geschäftsbereichen Edelmetalle und Autoabgas-Katalysatoren in die neue Gesellschaft dmc2 eingebracht. Im August 2001 wurden diese veräußert; heutiger Besitzer ist die belgische Umicore. Den Bereich Keramische Farben erwarb die US-Firma Ferro Inc.
Zusammen mit einem englischen Partner gründete die Deutschen Gold- und Silber-Scheideanstalt 1898 die Electro-Chemische Fabrik Natrium GmbH mit einer Produktionsstätte in Rheinfelden am Oberrhein. Dort wurde Natrium hergestellt, das die Degussa zur Fabrikation von Cyansalzen benötigte. 1999 wurde das Werk im Zuge der ersten Fusion mit dem benachbarten Werk Rheinfelden der vormaligen Hüls AG zusammengeführt.
Expansion in neue Geschäftsfelder
Da eine international ausgerichtete Geschäftspolitik während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr möglich war, bemühte sich die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt um Beteiligungen oder Erwerbungen inländischer Produktionen. Bereits 1905 hatte sie sich an der Gründung der Chemische Fabrik Wesseling AG beteiligt. Diese Fabrik produzierte zunächst hauptsächlich Kaliumferrocyanid und ist eine Wurzel des heutigen Werkes Wesseling von Evonik Industries.
Mit der Beteiligung an der Platinschmelze G. Siebert in Hanau im Jahr 1906 stieg die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt in die Edelmetallhalbzeugproduktion ein. Außerdem erwarb sie im Jahr 1919 die Firma des Edelmetallunternehmens Dr. Richter & Co. in Pforzheim. Aus dieser entwickelte sich die Hauptproduktionsstätte des Geschäftsbereichs Dental. 1995 wurden alle Dentalaktivitäten am Standort Wolfgang bei Hanau zusammengefasst und im Rahmen der Konzentration auf die Spezialchemie im Juli 2000 in die Degussa Dental GmbH & Co. KG ausgegliedert. Die Abgabe dieses Unternehmens erfolgte im Oktober 2001 an die US-amerikanische Dentsply International Inc., York/Pennsylvania.
Zukunftsträchtige Geschäftsfelder
Ein wichtiges neues Gebiet, die organische Chemie, erschloss sich die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt 1930/31 durch den Erwerb der beiden großen deutschen Holzverkohlungsunternehmen, der Holzverkohlungsindustrie AG (HIAG) in Konstanz und dem Verein für Chemische Industrie, Mainz. So kam eine Vielzahl organischer Chemieprodukte zur Degussa. Dazu gehören Methanol und Acrolein, das nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Methioninsynthese große Bedeutung erlangte, sowie – gemeinsam mit der BASF AG – der Kunststoff Polyoxymethylen. Wirtschaftlichen Erfolg brachte ein Verfahren zur Herstellung von wasserfreiem Alkohol, der als Beimischung zum Treibstoff ein weites Absatzgebiet hatte.
Im Jahr 1932 erwarb die Degussa eine kleine Flammrußfabrik in Kalscheuren bei Köln und eröffnete damit das große Geschäftsfeld der Industrieruße. Bereits 1934 gelang es, den aktiven Gasruß CK3 herzustellen, ein wichtiges Produkt für die expandierende Reifenindustrie und eine starke Konkurrenz für die dominierenden amerikanischen Rußhersteller. Das Geschäft mit Industrierußen sowie das Werk Kalscheuren wurden zum 1. August 2011 veräußert.
Die Zeit des Nationalsozialismus
In der Zeit des Nationalsozialismus baute die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt im Rahmen der Autarkiebestrebungen des NS-Regimes ihr Edelmetall- und Chemiegeschäft aus. So wurden die Entwicklungen auf dem Rußgebiet durch staatliche Interventionen stark vorangetrieben. Darüber hinaus wurden neue Produktionsverfahren auf der Basis heimischer Rohstoffe entwickelt und im Rahmen von "Arisierungen" weitere Unternehmen erworben.
Die Geschichte der Deutschen Gold- und Silber-Scheideanstalt in der NS- sowie der unmittelbaren Nachkriegszeit ist Gegenstand zweier historisch-wissenschaftlicher Forschungsarbeiten. Der renommierte amerikanische Historiker Prof. Peter Hayes (Northwestern University) hat dazu im September 2004 das Buch "Die Degussa im Dritten Reich - Vor der Zusammenarbeit zur Mittäterschaft" veröffentlicht. Die deutsche Ausgabe des Buches ist im C.H. Beck Verlag, München, erschienen, die englische bei Cambridge University Press, New York.
Der Wirtschaftshistoriker Dr. Ralf Banken, Köln/Frankfurt, beschäftigt sich eingehend mit der Devisenbewirtschaftung während der NS-Zeit. Zu den wesentlichen Devisenbringern des NS-Regimes gehörte Gold, mit dem der Kauf kriegswichtiger Güter im Ausland bezahlt wurde. Die Degussa als Edelmetall-Scheiderei schied geraubtes Gold im Auftrag des Deutschen Reichs. Das geschiedene Gold ging an das Reich zurück, bis auf einen Teil, der für den gewerblichen Gebrauch bestimmt war und den die Degussa verteilen durfte. Dr. Bankens Untersuchung ist Ende 2008 erschienen. Informationen zu diesen Forschungsarbeiten und ihren Ergebnissen finden Sie im Abschnitt "Degussa in der NS-Zeit".
Wiederaufbau und Neubeginn
Zum Kriegsende im Mai 1945 kam die Produktion in nahezu allen Werken vorübergehend zum Stillstand. Die Zerstörungen der Gebäude und Fabrikationsanlagen an manchen Standorten betrugen bis zu 75 Prozent. Die ausländischen Beteiligungen und Unternehmen gingen verloren, die Anlagen im Osten wurden enteignet. Die Werke im Westen erhielten eine Treuhänderverwaltung und wurden teilweise demontiert.
Der dennoch bald einsetzende Wiederaufbau nahm seinen Ausgang in der breiten Produktpalette der Deutschen Gold- und Silber-Scheideanstalt, die vielseitige Ansatzpunkte bot. Darüber hinaus schaffte die Währungsreform im Juni 1948 gute Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Neubeginn. Noch im gleichen Jahr begann die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt, ihr Frankfurter Verwaltungsgebäude auf den alten Grundmauern in neuem Gewand wieder aufzubauen.
Internationalisierung der Degussa
1953 gründete die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt in Brasilien ihre erste Auslandsproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg, die Bragussa s.a. Auf einem Gelände unweit von Sao Paulo wurde ein Betrieb zur Herstellung von Farben und Hilfsmitteln für die keramische Industrie, ferner edelmetallhaltige galvanische Bäder und Salze für Oberflächenbehandlung errichtet. Die Produktion im Werk Mauá begann 1955. Das Unternehmen wurde mit anderen brasilianischen Tochtergesellschaften 1979 zur brasilianischen Degussa s. a. fusioniert.
Darüber hinaus wurden zur Versorgung der Auslandsnachfrage in den 1950er Jahren Vertriebsgesellschaften in aller Welt gegründet, so in Frankreich, Großbritannien und den USA, Mexiko, Argentinien und Südafrika.
Da die Produktionskapazitäten für Natriumperborat, AEROSIL , Blausäure und Cyanurchlorid in der Bundesrepublik Ende der sechziger Jahre nicht mehr ausreichten, errichtete die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt im belgischen Antwerpen ein chemisches Großwerk. Die ersten Produktionsanlagen gingen 1970 in Betrieb.
Wenige Jahre später, 1974, begannen die Arbeiten für ein erstes großes Chemiewerk in den Vereinigten Staaten, das in Mobile/Alabama angesiedelt wurde. Die 1977 in den USA gegründete Degussa Corporation wurde zum größten ausländischen Investitionsschwerpunkt des Unternehmens.
Nach der Einführung von strengen Abgasrichtlinien in den USA und Japan begann man im Werk Rheinfelden mit der Produktion von Abgas-Katalysatoren. Mit weltweiten Produktionsstätten zählte die vormalige Degussa zu den bedeutendsten Herstellern von Autoabgas-Katalysatoren. Diese Aktivitäten wurden im Jahr 2000 in die dmc AG ausgegliedert und bald darauf veräußert.
Auf dem Rußgebiet wurde die Degussa in den 1980er Jahren nicht nur in den Vereinigten Staaten aktiv, wo sie die Rußwerke der Ashland Oil Inc., Ashland/USA, erwarb und diese in einer eigenen Gesellschaft, der Degussa Carbon Black Corporation, zusammenfasste. Vielmehr kaufte sie auch die europäischen Rußwerke der Phillips Petroleum Company, Bartlesville/Oklahoma. Damit kamen Rußwerke in Frankreich und der Niederlande sowie Rußfabriken in Schweden und Italien in den Besitz des Unternehmens.
Neuausrichtung in Asien
Der wachsende Einfluss Japans und die Erstarkung südostasiatischer Wirtschaftsräume veranlassten die Degussa, in dieser Region neben ihren Vertriebsgesellschaften auch Produktionsstätten und anwendungstechnische Zentren aufzubauen. 1966 gründete die Degussa zusammen mit der Mitsubishi Metal Mining Co. Ltd. in Japan die Nippon Aerosil Co. Ltd., Tokio, zur Produktion und zum Vertrieb von AEROSIL . 1969 folgte die Gründung der Vertriebsgesellschaft Japan Co. Ltd. in Tokio. In Hongkong entstand 1974 die Degussa China Ltd. als Vertriebsgesellschaft für den Fernen Osten, 1984 kam ergänzend die Degussa Pacific Ltd. Hongkong hinzu. Zweigbüros entstanden in Seoul, in Taipeh sowie in den chinesischen Städten Shanghai, Beijing und in Shenzhen.
Im Jahre 1994 erfolgte das erste deutsch-chinesische Joint-Venture auf dem Gebiet der Gummi- und Reifenruße mit der Gründung der Quingdao Degussa Chemical Company Ltd. Im Februar 1999 fusionierte die Degussa AG auf die VEBA-Tochter Hüls AG, Marl, zur neuen Gesellschaft Degussa-Hüls AG mit Sitz in Frankfurt am Main. Im Zuge der Verschmelzung von VEBA und VIAG zur E.ON AG wurden die Degussa-Hüls und die VIAG-Tochter SKW Trostberg AG im Jahr 2001 auf die Degussa AG, Düsseldorf, übertragen.
In mehreren Schritten erwarb die Essener RAG Beteiligungs AG bis 2006 sämtliche Anteile der Degussa AG, die anschließend in eine GmbH umgewandelt wurde. Nach der Umwandlung der RAG Beteiligungs AG in die Evonik Industries AG am 12. September 2007 sind die Geschäfte der ehemaligen Degussa GmbH auf das neue Unternehmen übergegangen.