Die Anfänge
Essen
Den Standort Essen/Goldschmidtstraße gibt es seit 1890, also seit mehr als 120 Jahren. Er ist damit der traditionsreichste noch aktive Standort von Evonik Industries.
In den 1880er Jahren hatte sich die Chemische fabrik Th. Goldschmidt in Berlin unter der Leitung von Karl Goldschmidt verstärkt der Entzinnung von Weißblech zugewandt. Um dieses Geschäft auszubauen, benötigte man billige Energie, ein entwicklungsfähiges Firmengrundstück und natürlich die Nähe zu den Kunden, also der Textil- und Seidenindustrie einerseits und der Stahlindustrie auf der anderen Seite. Da Berlin keinen dieser Vorteile bot, sah man sich im aufstrebenden Ruhrgebiet um und wurde in Essen fündig. 1889 erwarb Goldschmidt ein Grundstück im Nordwesten der Stadt, direkt an der so genannten Rheinischen Eisenbahn, ganz in der Nähe des Schlachthofes. Bürgerproteste gegen die Ansiedlung chemischer Industrie in Essen wurden vom Bürgermeister, der sein Gewerbesteueraufkommen im Blick hatte, abgewiesen.
Bereits 1890 begann die Produktion in Essen, wohin auch der Firmensitz von Goldschmidt verlegt wurde. Bis zum Ersten Weltkrieg wurde das Gelände, das in seiner Ausdehnung etwa einem Sechstel des heutigen Umfangs entsprach, nahezu komplett bebaut. Es entstanden neben einem später mehrfach erweiterten Verwaltungsgebäude und einem kleinen Labor vor allem Anlagen zur elektrolytischen, alkalischen und Chlorentzinnung von Weißblech sowie zur Herstellung von Thermit-Schweißmasse. Daneben betrieb Goldschmidt in Essen die damals größte Zinnhütte in Europa.
Krise und Wandel
Die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die darauf folgenden ökonomischen, sozialen und politischen Krisen hatten auch für Goldschmidt und Essen einschneidende Folgen. Hyperinflation, Ruhrkampf, Ruhrbesetzung und Weltwirtschaftskrise ließen nur geringen Raum für Investitionen. Und doch setzten möglicherweise gerade die ökonomische Not und der Mangel Kräfte frei und bewirkten eine neue Offenheit für Innovationen. In den 1920er Jahren setzte ein erster grundlegender Wandel ein, nachdem die Zinnhütte geschlossen werden musste und zu erkennen war, dass die Entzinnung und das Thermit-Geschäft allein eine zu schmale Unternehmensbasis darstellten.
So entstanden in Essen nach und nach vor allem Betriebe zur Produktion von Bautenschutzmitteln (1926), von Emulgatoren (1927) und von Leimfilm (1929). Der Emulgatorenbetrieb wurde dabei zur Basis der Pflegespezialitäten, die am Standort heute erfolgreich von Evonik hergestellt werden.
Die Zeit des Nationalsozialismus
Da Goldschmidt zahlreiche Produkte herstellte, die den Autarkiebestrebungen der nationalsozialistischen Machthaber entgegen kamen – Emulgatoren halfen Fett zu sparen, Leimfilm trug dazu bei, den Import der Leimbasis Kasein zu drosseln – profitierte auch das Essener Werk zunächst in hohem Maße von deren verstärkten Rüstungsanstrengungen. Bis zum Frühjahr 1943, also dem Beginn der großen Luftangriffe auf Essen, wurde die Produktion auf ein neues Rekordniveau hochgefahren. Dies war nur möglich durch den verstärkten Einsatz von Zwangsarbeitern. So arbeiteten im September 1943 im Werk Essen immerhin 162 Ausländer, knapp 24 Prozent einer aktiven Belegschaft von 680 Mitarbeitern. Durch die Baumaßnahmen, die gegen Ende der 1930er Jahre als Folge der Aufrüstungspolitik noch verstärkt wurden, platzte das Werk aus allen Nähten. Doch erst die Bomben des Zweiten Weltkriegs, die das Werk zu 85 Prozent zerstörten, schufen paradoxerweise neue Möglichkeiten. Goldschmidt erwarb die angrenzenden Grundstücke zerstörter Häuserblöcke und führte letztlich erfolgreiche Verhandlungen mit der Stadt Essen, die dem Unternehmen erlaubte, bis in die 1960er Jahre ein halbes Dutzend zuvor öffentlicher Straßen einzuziehen und so das Werksgelände zu arrondieren.
Wiederaufbau und Wirtschaftswunder
Der ab 1949 einsetzende wirtschaftliche Aufschwung veränderte auch den Standort Essen nachhaltig. Die zerbombten Betriebe wurden modernisiert wieder aufgebaut. Auf dem Gelände zweier zerstörter Häuserblocks entstand Mitte der 1950er Jahre ein großzügiger Neubau zur Produktion von Emulgatoren und den neuen Desinfektionsmitteln. Die Weißblechentzinnung wurde stark erweitert und neue Büro- und Laborbauten säumten das alte Gelände in den 1960er Jahren. Als dies alles nicht ausreichte, erwarb Goldschmidt von der Deutschen Bundesbahn ein unwirtliches Trümmergelände, das heutige Ostgelände des Werkes. Dort wurden von 1965 bis in die jüngste Zeit alle neuen Produktionsbetriebe errichtet. Sie dienten und dienen ausschließlich der Herstellung von Siliconen bzw. organomodifizierten Siloxanen für eine große Zahl zum Teil sehr spezieller Anwendungen. So werden in Essen beispielsweise Stabilisatoren für PU-Schäume, Netzmittel für den Pflanzenschutz, Dispergiermittel zur Kunststoffeinfärbung, Trennmittel für die Gummiformteilherstellung Entschäumer für Lacke sowie strahlenhärtende Silicone, die in Trennbeschichtungen eingesetzt werden, hergestellt.
Modernisierungen in jüngster Zeit
Ein Ende des nahezu ununterbrochenen Modernisierungsprozesses am Standort Essen ist nicht abzusehen, wie ein Blick in die jüngste Vergangenheit verrät. Zahlreiche alte Betriebsgebäude wurden abgebrochen, darunter im Herbst 2007 die Lagergießerei aus dem Jahr 1940. Im Gegenzug entstanden 1995 und 2005 die Polyether-Betriebe IV und V, in zwei Ausbaustufen 1997 und 2004 der SiC-Betrieb, ebenfalls in zwei Stufen 1997 und 2000 Hochregallager und Zentralversand, 2001 ein Büro- und Laborgebäude für Lack- und Farbenaddditive sowie 2003 eine hochmoderne Kleingebindeabfüllung samt Musterversand, die 2011 noch einmal vergrößert worden sind.
Essen/Goldschmidtstraße ist heute ein wichtiger Standort von Evonik Industries. Mit mehr als 1.400 Beschäftigten ist das traditionsreiche Werk mittlerweile der größte Produktionsbetrieb der Stadt, an deren Zentrum es unmittelbar angrenzt. Die kurios anmutende aktuelle Namensgebuung mit Städte- und Straßennamen, resultiert übrigens aus der Tatsache, dass Evonik Industries in Essen noch einen weiteren Standort hat, nämlich seine Konzernzentrale an der Rellinghauser Straße.