Von Düngemitteln zur NCN-Chemie

Trostberg

Werk Trostberg, Luftbild von Südwesten

Gründung des Standortes

Mit der Gründung der „Bayerische Stickstoffwerke AG“ (BStW) mit Sitz in Berlin am 6. November 1908 begann auch die Geschichte des heutigen Evonik-Standortes Trostberg im nördlichen Chiemgau. Die Entscheidung war zugunsten Trostbergs gefallen, weil die Eigentümerin der BStW, die Cyanidgesellschaft mbH in Berlin, die Wasserkraft der Alz, einem Nebenfluss des Inn, zur Stromproduktion nutzen wollte. Dies war im Hinblick auf die energieintensive Herstellung von Kalkstickstoff als Düngemittel von ausschlaggebender Bedeutung. Bis dahin hatte die Alz das Umland immer wieder mit Überschwemmungen heimgesucht, so dass eine Regulierung des Flussverlaufes nötig war. Im Zuge der Regulierungen wurden bis 1910 zwei Wasserkraftwerke in Trostberg und Schalchen gebaut, die den Strom für den Industriestandort lieferten. Die Alz bot für die Stromerzeugung besonders gute Bedingungen, da sie der Fluss mit den größten Gefällen in Deutschland ist und entsprechend große Wasserkraft freisetzt.

Aufschwung in Zeiten des Krieges

Schon bald wurden in Trostberg große Mengen Kalkstickstoff produziert. Es war das erste Werk in Deutschland, in dem dieses Düngemittel in industriellem Maße gefertigt wurde. 1913 produzierten die BStW bereits 20.000 Tonnen Kalkstickstoff und im Laufe des Ersten Weltkrieges waren 225.000 Tonnen pro Jahr projektiert. Ein Ausbau des Standortes zwischen 1915 und 1919 war die Folge, bei dem zusätzliche Produktionsanlagen entstanden. 1923 kamen die BStW mit dem Standort Trostberg unter das Dach der neugegründeten reichseigenen VIAG (Vereinigte Industrie-Unternehmungen Aktiengesellschaft). In der Folgezeit baute das Unternehmen den Kalkstickstoffbetrieb in Trostberg weiter aus, bis es Ende der 1920er Jahre in den Sog von Weltwirtschaftskrise und Hyperinflation geriet und massive Rückgänge in Produktion und Absatz verkraften musste.

Die Jahre des Nationalsozialismus

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 konnte die Talfahrt gestoppt werden. Ursache für die wirtschaftliche Wiederbelebung waren die Autarkie-Bestrebungen der Nationalsozialisten, bei der die Produktionssteigerung in der Landwirtschaft eine bedeutende Rolle spielte. Entsprechend groß war die Nachfrage nach dem Düngemittel Kalkstickstoff, um, wie es hieß, „den heimischen Bodenertrag“ steigern zu können. 1939 übernahm die Bayerische Kraftwerke AG die Bayerische Stickstoffwerke AG und firmierte um zur Süddeutsche Kalkstickstoff-Werke AG (SKW) mit Sitz in Trostberg. Während des Krieges blieben die Anlagen in Trostberg lange von Bombenangriffen verschont. Erst am 22. Februar 1945, kurz vor Kriegsende, wurde das Werk bei einem Luftangriff von einer Luftmine getroffen. Diese traf das Gebäude der Betriebskrankenkasse, in dessen Luftschutzkeller 16 Menschen starben. Ein weiterer Bombenangriff am 19. März 1945 verursachte nur Flurschäden.

Wiederaufbau

Nach Kriegsende im Mai 1945 wurde der Vorstand der SKW von der US-amerikanischen Verwaltung abgesetzt, der Aufsichtsrat suspendiert und ein Treuhänder bestellt. Im Dezember 1945 lief die Produktion von Kalkstickstoff in Trostberg wieder an. Der Standort und die gesamte SKW blieben jedoch unter US-amerikanischer Kontrolle. Von März 1949 bis November 1950 ging die Kontrolle auf das Bayerische Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiederaufbau über. Erst danach konnten die neu besetzten Organe, Vorstand und Aufsichtsrat, wieder in Funktion treten. Schon 1948 waren Modernisierungsarbeiten auf dem Firmengelände in Trostberg begonnen worden, in deren Verlauf unter anderem neue Anlagen zur Produktion von Guanidin in Betrieb genommen wurden. Guanidine dienen unter anderem als Ausgangsstoffe für Kunstharze, Arzneimittel oder Farbstoffe. Später folgte ein neues Verwaltungs- und Kantinengebäude.

In den 1950er Jahren wurde im Werk Trostberg der erste Drehrohrofen in Betrieb genommen, der für die Herstellung von geperltem Kalkstickstoff (PERLKA) eingesetzt wurde, der eine wichtige anwenderfreundliche Weiterentwicklung des herkömmlichen gemahlenen Kalkstickstoffs darstellte. In den folgenden Jahren wurde dieses Produkt so erfolgreich, dass acht weitere Produktionsöfen am Standort installiert wurden.

Einstieg in die NCN-Chemie

Die Landwirtschaft mit dem Schlüsselprodukt Kalkstickstoff blieb zunächst die wichtigste Zielgruppe der Produktion in Trostberg. Gleichzeitig wurde aber seit 1948 mit der Entwicklung der NCN-Chemie ein wichtiger Schritt gemacht, um das Produktprogramm zu erweitern. NCN-Chemie steht für Produkte mit typischer Stickstoff-Kohlenstoff-Stickstoff-Verbindung, von denen eine ganze Palette in Trostberg neu entwickelt wurde, wie MELAMIN, Cyanamid, Dicyandiamid und Guanamine. Sie dienen beispielsweise als Ausgangsstoffe für Laminate oder Pressmassen sowie für wasserdampffeste Leime und Lacke. Diese organischen Zwischenprodukte wurden zunächst in einer Technikumsanlage in Trostberg und anschließend in einer neuen Großanlage in der stillgelegten Carbidfabrik in Schalchen hergestellt. 1968 kam eine weitere wichtige Produktpalette hinzu, als die SKW in Trostberg die Herstellung des Betonfließmittels MELMENT aufnahm, das ebenfalls Teil der NCN-Chemie ist. Der Betonzusatz MELMENT und seine Produktvarianten wurden zur Grundlage der SKW Bauchemie, die das Unternehmen bis zur weltweiten Marktführerschaft führte.

1978 firmierte die Süddeutsche Kalkstickstoff-Werke AG in SKW Trostberg AG um. Ihr Sitz verblieb in Trostberg. Eine weitere Produktionssparte entstand ab 1980, als in Trostberg Versuche zur Extrahierung von Naturstoffen aufgenommen wurden, aus denen 1987 der neue Organisationsbereich Naturstoffe hervorgegangen ist. 1990 wurden die Versuchs- und Produktionsarbeiten auf diesem Gebiet im neugebauten Naturstoff-Technikum (NATEC) in Trostberg zusammengefasst.

Werk Trostberg, Luftbild von Südosten

Nach der Fusion der SKW Trostberg AG mit der Degussa-Hüls AG im Februar 2001 wurde 2006 der Bauchemie-Bereich an die BASF und die verbliebenen Chemie-Aktivitäten als eine Tochtergesellschaft, die AlzChem GmbH, geführt. Ende 2009 wurde die AlzChem an den Finanzinvestor BluO verkauft. Die weiterhin ansässigen Firmen bilden den Chemiepark Trostberg, der 2008 sein Jubiläum unter dem Motto „100 Jahre Chemie in Trostberg“ feiern konnte.