Carbid

Hart an der Alz

Mit der Gründung der Bayerischen Stickstoffwerke AG (BStW) 1908 begann die Geschichte der Kalkstickstoff-Produktion im „Südostbayerischen Chemiedreieck“, dem von Chemie-Standorten geprägten geographischen Dreieck zwischen Inn und Salzach.

Der maßgebliche Rohstoff Carbid, aus Kalk und Koks gewonnen, wurde anfangs in der Carbidfabrik Schalchen bei Trostberg (1910 bis 1925 in Betrieb), ab 1919 hauptsächlich im 15 km nördlich gelegenen Hart an der Alz erzeugt. Für beide Standorte war die Wasserkraft als Energiequelle ausschlaggebend: der Bau des Kraftwerks III (Carowerk) bei Hirten-Margarethenberg sowie des 14,5 km langen Werkskanals zwischen Kraftwerk II (Schalchen) und Kraftwerk III schuf die Voraussetzungen für die Carbidfabrik Althart (heute Hart II). Sechs Carbidöfen à 3000 kW dienten zur Produktion. Eine 5 km lange Industriebahn zur nächstgelegenen Bahnstation Garching ermöglichte den Versand.

Werk Hart, Verwaltungsgebäude, 1960er Jahre

Finanziert wurden diese neuen Aktivitäten durch das Deutsche Reich. Aus rechtlichen und finanziellen Gründen entstanden deshalb 1920 die Bayerische Kraftwerke AG (BKW). Die Geschäfts- und Betriebsführung der BKW oblag der BStW. Ab 1925 vereinbarten diese beiden Gesellschaften eine Betriebsgemeinschaft. Dieser Zusammenschluss führte dann 1939 zur Gründung der Süddeutschen Kalkstickstoff-Werke AG (SKW).

Der Verlust der Oberschlesischen Stickstoffwerke (OStW) in Chorzow/Königshütte 1922 an Polen erforderte die Vergrößerung der bayerischen Kalkstickstoff-Produktion. Folglich mussten auch die Kapazitäten für das Vorprodukt Carbid vergrößert werden. Von 1922 bis 1924 wurde zusätzlich die Carbidfabrik Neuhart (heute Hart I) errichtet, anfänglich mit sechs Carbidöfen à 10.000 kW, deren Leistung in den Folgejahren auf das Doppelte gesteigert wurde. 1954 bis 1956 wurde Ofen 7 als weltweit erster geschlossener Carbidofen errichtet, 1961 bis 1963 folgte der Umbau zum geschlossenen Typ auch bei Ofen 1.

Werkssiedlung Garching, 1920er Jahre

Für die ebenfalls rasch steigende Belegschaft wurden in den 1920er Jahren 180 Wohneinheiten als Werkssiedlung Garching errichtet. Dazu zählten auch weitere soziale Einrichtungen wie eine Volksschule und eine Turnhalle.

Legierungen

Die Kriegszeit, die Hart ohne Bombenschäden überstand, brachte im Jahre 1944 den Einstieg in die metallurgische Produktion, die sich in den Nachkriegsjahren kontinuierlich zum zweiten Standbein für den Standort entwickelte. Die Produktion startete mit Ferrosilizium (FeSi). Anlass waren Anforderungen der NS-Planungsbehörde, um kriegsbedingte Produktionsausfälle zu ersetzen. Nennenswerte Mengen wurden jedoch erst in den 1950er Jahren durch den Bau neuer Produktionsanlagen (Elektroöfen) erzielt. 1949 folgten Calciumsilizium (CaSi) sowie weitere metallurgische Spezialitäten, die hauptsächlich als Zuschlagstoffe in der Stahlerzeugung Verwendung fanden. Zur Modifizierung und Optimierung von verschiedenen Gusseisen-Werkstoffen wurden 1955 höherwertige, innovative Gießereilegierungen eingeführt, wie Vorlegierungen und Impfmittel. In den 1980er Jahren folgte eine weitere Innovation für die Gießerei-Industrie: Mit der Fülldraht-Technologie können seitdem die Zuschlagstoffe in Behandlungs- und Impfdrähten besonders genau nach Menge, Zeitpunkt und Ort zudosiert werden.

Umweltschutz

Die zunehmende Luftverschmutzung und die steigende Bedeutung des Umweltschutzes in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit führten in Hart zu erheblichen Investitionen und laufenden Verbesserungen: So wurde 1956 erstmals ein geschlossener Carbidofen (35.000 kW) mit Gasreinigungsanlage in Betrieb genommen, der erste weltweit. Damit konnte in Verbindung mit ebenfalls neu entwickelten Keramikfiltern das entstehende Kohlenmonoxid erfasst, gereinigt und als wertvolles Prozessgas weiterverwendet werden. Hierzu wurde eine Kohlenmonoxid-Gasleitung nach Schalchen und Trostberg verlegt, wo dieses Gas als wertvoller Reaktionspartner in der Kalkstickstoff-Derivate-Chemie eingesetzt wird.

Entstaubungsmaßnahmen stellten Anfang der 1980er Jahre einen weiteren Meilenstein im Umweltschutz dar. Kennzeichneten bis dahin dicke Rauchschwaden und folglich feinstaubige Ablagerungen das Werk Hart und seine Umgebung, so gelang es durch den Einsatz von feinporigen Gewebefiltern, die Produktionsanlagen (Carbid- und Legierungsöfen) wirksam zu entstauben. Die Staubemissionen (vorher ca. 40 t pro Tag) wurden damit um 95% gesenkt. 1989/1990 ersetzten noch wirksamere Keramik-Faser-Filter die Filteranlagen für Kohlenmonoxid. In den 1990er Jahren gelang es zudem, diese Filterstäube zu granulieren bzw. zu kompaktieren, um sie als Zuschlagstoffe für die Baustoffindustrie nutzbar zu machen.

Werk Hart, Luftbild 2001

Durch die Verlagerung von Massengütern (FeSi und CaSi) auf kleinvolumigere Spezialitäten sowie die zunehmende Automatisierung arbeitsintensiver Prozesse sank die Zahl der Mitarbeiter am Standort Hart von über 1000 in den 1950er bis 1970er Jahren um etwa die Hälfte. Nach der Fusion zur neuen Degussa wurden die Legierungs- und Gießerei-Aktivitäten verkauft. Die restlichen Metallurgie-Aktivitäten mit ca. 400 Mitarbeitern wurden als Teil der 2006 gegründeten AlzChem GmbH geführt. 2009 kaufte der Finanzinvestor BluO die AlzChem GmbH. Mit Carbid und Kohlenmonoxid-Gas leistet Hart weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Rohstoffversorgung der auf Carbid basierenden Kalkstickstoff-Derivate-Chemie, die ein Herzstück des heutigen Trostberger Chemieparks ist.