Die Geschichte der Hüls AG
Das Buna-Werk
Am 9. Mai 1938 begann die Geschichte des Unternehmens Hüls als Chemische Werke Hüls GmbH in Marl. Im Rahmen des damaligen Vier-Jahresplans der Reichsregierung zur Kriegsvorbereitung beteiligten sich die IG Farbenindustrie AG zu 74 Prozent und die Bergwerksgesellschaft Hibernia AG zu 26 Prozent an der Unternehmensgründung. Damit war der damals weltweit größte Chemiekonzern mit dem Bergbausektor der zu dieser Zeit staatlichen VEBA AG eine Zusammenarbeit eingegangen. Diese sollte der Produktion von synthetischem Kautschuk, Buna genannt, und Ethylenoxid-Folgeprodukten dienen.
Der Standort war in der damaligen Situation günstig gewählt. Er lag am Wesel-Datteln Kanal und in der Nähe von Kokereien und Hydrierwerken. Dadurch konnte bei der Produktion ein Kreislauf ausgebildet werden. Die Bergwerksgesellschaft Hibernia lieferte aus ihrem Hydrierwerk Scholven Abgase, aus denen Hüls im Lichtbogenverfahren Acetylen und Ethylen machte. Der dabei anfallende Wasserstoff wurde an das Hydrierwerk zurückgeliefert. Dort wurde Kohle verflüssigt, um Wasserstoff anzulagern und daraus Benzin zu machen. Das Acetylen wurde in einem vierstufigen Verfahren zu Buna (hergeleitet aus Butadien und Natrium), während man das Ethylen über das Ethylenoxid z.B. zu Frostschutzmitteln für Motoren weiterverarbeitete.
Hüls und die I.G. Farben
Auf der Leitungsebene hielt die I.G. Farbenindustrie AG die Bergwerksgesellschaft Hibernia in der Rolle eines Juniorpartners. Die Grundstücke der neuen Firma am Standort in Marl stammten von I.G. Farben. Sie wurden an Hüls verpachtet, die Produktionspatente erhielt Hüls kostenlos von I.G. Farben, die sich das Eigentumsrecht an allen Verbesserungen vorbehielt und zentral die hergestellten Produkte verkaufte. Hibernia erhielt keine Marktinformationen. Am 29. August 1940 wurden die ersten Bunaballen ausgeliefert. Das Leitungspersonal stammte bis zur Meisterebene aus anderen Werken der I.G. Farbenindustrie AG, die Arbeiter wurden zunächst aus dem Münsterland rekrutiert, ab 1941 auch Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion, Polen, der Slowakei, Italien, Frankreich, Belgien und den Niederlanden.
In einer wissenschaftlichen Studie von PD Dr. Paul Erker, München, und Dr. Bernhard Lorentz, Hamburg, über die Hüls-Geschichte zwischen 1938 und 1979 nimmt die bis dahin teilweise unbeleuchtete Rolle der Chemischen Werke Hüls während des Nationalsozialismus breiten Raum ein. Die Arbeit wurde im Jahre 2003 veröffentlicht.
Nachkriegszeit und Entflechtung
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geriet Hüls innerhalb der zu entflechtenden I.G. Farbenindustrie unter englische Verwaltung und wurde als „verbotene Industrie II“ eingestuft, d.h. es musste sich eine neue Produktbasis suchen, denn mittelfristig wurde die Bunaproduktion verboten. Außerdem sollte das Unternehmen zu einer eigenständigen Aktiengesellschaft werden, d.h. es mussten der Verkauf, die Forschung und Anwendungstechnik in völlig neuen Abteilungen organisiert werden.
Zum 1.Januar 1953 erfolgte die Umgründung in Chemische Werke Hüls AG. Sie gehörte zu 50 Prozent der Chemieverwaltungsgesellschaft, einer Nachfolgeorganisation der entflochtenen I.G. Farbenindustrie AG, an der auch die Bayer AG, die damalige Hoechst AG, sowie die BASF AG, die aus der I.G. Farbenindustrie hervorgegangen waren, Anteile hielten. Weitere 25 Prozent der Anteile hielt die Kohleverwertungsgesellschaft, an der je zu einem Drittel die Gelsenkirchener Bergwerksaktiengesellschaft (GBAG), die Ruhrgas AG und die Steinkohlen-Elektrizität AG (STEAG), heute das Geschäftsfeld Energie von Evonik Industries, beteiligt waren. Die restlichen 25 Prozent gehörten der Bergwerksgesellschaft Hibernia AG.
An diesem Knotenpunkt der Geschichte der Hüls AG werden drei Handlungsstränge sichtbar, entlang denen sich fortan die Geschichte der Hüls AG entwickelte:
In der Nachkriegszeit wurde die Chemische Werke Hüls AG ein Werk der Grundchemie. Nach 1945 wurde die Produktion u.a. von Tensiden, Polyvinylchlorid, Lackrohstoffen, Polystyrol und Weichmachern in Großproduktion aufgenommen. In den 1950er Jahren kamen Polyethylen, Polypropylen und erneut Buna dazu. In den sechziger Jahren begann man, sich der Spezialchemie mit den Technischen Kunststoffen zuzuwenden.1979 kamen die Isophoron-Folgeprodukte hinzu, das sind Lackrohstoffe für hochtechnische Anwendungen, z.B. bei der Außenlackierung des Spaceshuttle. In den siebziger Jahren wurden die Forschung und Anwendungstechnik dem Marketinggedanken untergeordnet. Verkaufsbüros organisierten den Absatz in der Bundesrepublik Deutschland, international waren Vertretungen tätig - zunächst, gegen Ende der 1950er Jahre Hüls Far East Ltd. in Hongkong.
In den sechziger Jahren folgten Vertretungen in Westeuropa und in den 1970er Jahren weltweit. Hatte man in den 1960er Jahren internationale Joint Ventures in Marl gegründet (Katalysatorenwerke Houdry-Hüls GmbH, Faserwerke Hüls GmbH mit Eastman Kodak) kamen in den 1970er Jahren ausländische Tochterfirmen und Joint Ventures (Servo B.V. in Delden/Niederlande und Daicel-Hüls Ltd. in Osaka/Japan) hinzu.
Ab 1988 wurde die Produktstruktur in Richtung Spezialchemie durch die Hinwendung zur Silizium- und Fettchemie strategisch verändert, in den neunziger Jahren gab man die Produktionen der Großprodukte Tenside, Polyethylen/Polypropylen (VESTOLEN) sowie Polyvinylchlorid ((VESTOLIt).
Bis 1979 war die Chemische Werke Hüls AG durch die Vielzahl der Eigentümer an mehrere Interessen und Direktiven gebunden. Durchgängig stand das Unternehmen unter dem Einfluss der Bayer AG, die so verhinderte, dass Hüls in ihre Arbeitsgebiete eindrang. Darüber hinaus war man abhängig von der Bergwerksgesellschaft Hibernia AG, um die Ziegler-Lizenzen zur Herstellung von Polyethylen und Polypropylen zu erhalten. Ab 1979 gehörte Hüls ausschließlich der VEBA AG, die in dieser Tochtergesellschaft ihre Chemieaktivitäten konzentrierte, und konnte eine internationale Expansionsstrategie entwickeln. Durch Firmenzukäufe - etwa des Chemieteils der Dynamit Nobel AG (1988, Silizium- und Fettchemie in Rheinfelden bzw. Witten) - und die darauf folgenden Ankäufe der Röhm GmbH (1989, Methacrylate) und Stockhausen GmbH (1991, Superabsorber) wandelte sich das Unternehmen in Richtung Spezialchemie.
Weil das Werk auf der grünen Wiese gebaut wurde und zwischen1938 und 1940 bereits 3000 Familien nach Marl zogen, galt es, neue soziale Mittelpunkte zu schaffen, die auch heute noch teilweise von Bedeutung sind. So wandelte sich das „Feierabendhaus“ von einem fast ausschließlich von Hüls-Mitarbeitern genutzten sozialen Treffpunkt mit Restaurant, Kino, Theater, Konzerten und Bildungsvorträgen zum Restaurant des heutigen Chemieparks Marl und einer Fortbildungsstätte von Evonik Industries. Die „werksverbundenen Vereine" existieren teilweise heute noch als Sportvereine mit eigenen Anlagen, als „Musikgemeinschaft Marl“ mit Chor und Orchester sowie als Werkschor.
Hüls in den 1990er Jahren
Auch nach 1979, als die Hüls AG mehrere Standorte (Werksgruppe Herne, Werke Scholven, Bottrop, Witten, Troisdorf, Lülsdorf, Rheinfelden, Steyerberg) aufwies, behielt Marl als weitaus größtes Werk und Sitz der Geschäftsleitung und aller Abteilungen ein Übergewicht. Erst als Röhm (1989) und Stockhausen (1991) hinzukamen, deren Organisation erhalten blieb, trat eine Änderung ein. Die Siliziumchemie verlegte beispielsweise ihren Sitz nach Düsseldorf. Nach einer erneuten Restrukturierung wurde die Hüls AG zum 1. Januar 1998 als international tätige Management-Holding mit weltweiten Tochtergesellschaften organisiert. Zusammen mit der Degussa AG wandelte sie sich seit der Fusion im Februar 1999 als Degussa-Hüls AG weiter zu einem Unternehmen der Spezialchemie. Das Werk in Marl wurde 1998 zum „Chemiepark“, der von einer Tochterfirma, der Infracor GmbH, betrieben wird. Hier sind auch andere Firmen ansässig, welche ehemalige Hüls-Großprodukte herstellen und vermarkten, z.B. Tenside durch SASOL Corp., Polystyrol durch die Ineos Styrenics und Polyvinylchlorid durch die Vestolit GmbH. Der Chemiepark Marl ist heute mit 6.000 konzerneigenen und mehr als 4.000 weiteren Beschäftigten der größte Standtort von Evonik Industries.