Vom flüssigen Kalkstickstoff zum vielseitigen Ausgangsprodukt

Cyanamid

Anfänge

Anlass, sich in Trostberg Ende der 1950er Jahre mit Cyanamid, H2NCN, dem Wirkstoff von Kalkstickstoff, CaNCN, zu befassen, war die Nachfrage der Landwirte nach einer flüssigen Form von Kalkstickstoff zur leichteren, staubfreien Düngerausbringung. Versuche, Kalkstickstoff in eine flüssige Form zu überführen, verliefen jedoch nicht erfolgreich. Stattdessen gelang es, den Wirkstoff Cyanamid als 50%ige, wässrige Lösung zu isolieren und zu stabilisieren. Intensive Forschungen und Versuchsreihen waren nötig, um zunächst das freie Cyanamid aus Kalkstickstoff darzustellen und die sehr reaktionsfreudige Cyanamid-Lösung zu stabilisieren. Im Laufe der Jahre entwickelte die eine Spitzenstellung im Produkt- und Anwendungs-Know-how. Die Forschungsergebnisse eröffneten auch für die Kunden vielfältige Einsatzmöglichkeiten. Infolge seiner vielfältigen Reaktionsfähigkeit eignete sich Cyanamid zur Synthese von modernen Pflanzenschutzmitteln, als Zwischenprodukt in der Pharmazie, in der organischen Synthese, zur Herstellung von Kunstharzen und Elektro-Isolierstoffen, zur Stärkemodifizierung und vielem mehr.

Ab 1962 standen zunächst Kleinmengen (1-Liter), bald aber schon Lieferungen im 18-Jahrestonnen-Maßstab zur Verfügung; 1964 gelang neben der bisherigen Form als Cyanamid L 500 in 50%iger, wässriger, stabilisierter Lösung, auch die Darstellung von Cyanamid F 1000 in fester, kristalliner Form. Ein Jahr später begannen umfangreichere Markteinführungen. Allen großen deutschen und internationalen Chemiefirmen wurden Versuchsmengen folgendermaßen angeboten: „Cyanamid, eine vielseitig verwendbare, sehr reaktionsfreudige organische Substanz der Formel H2NCN steht nun einem weiteren Kreis in Versuchsmengen zur Verfügung.“

Cyanamid Mikrofotografie

Vielfältige Anwendungen

Die SKW selbst setzte Cyanamid als unstabilisiertes Zwischenprodukt für eine breite Palette von Folgeprodukten aus der Verbindung Stickstoff-Kohlenstoff-Stickstoff, also der „NCN-Chemie“, ein, die Cyanamid und Derivate wie Guanidinsalze, Melamin, Dicyandiamid und Thioharnstoff umfasst. Diese Derivate fanden und finden vielfältige Anwendungen z. B. in der Pharma-Synthese und bei der Herstellung von Kunststoff. 1966 folgte die halbtechnische 70-Jahrestonnen-Anlage mit einer selbst entwickelten Kohlendioxid-Erzeugeranlage. Die steigende Nachfrage hatte kontinuierliche Kapazitätssteigerungen zur Folge. 1972 startete bereits eine 5.000-Jahrestonnen-Anlage. In den 1980er Jahren war die doppelte Kapazität und in den 1990er Jahren schließlich die vierfache Kapazität verfügbar.

Heute gehört das Produkt Cyanamid zum Geschäftsbereich Industrial Chemicals und die Evonik-Tochter AlzChem GmbH ist weltweit führend in der Cyanamid-Chemie. Eine eigene Website sowie ein periodischer Informationsdienst, der Cyanamide Newsletter, unterstreichen die Marktführerschaft und die ungebrochen aktuelle Bedeutung dieser chemisch einfachen Verbindung. Zahlreiche Patente und Fachveröffentlichungen spiegeln die vielfältigen Forschungs- und Anwendungsaktivitäten für Cyanamid und seine Folgeprodukte wider. Ziel der Anwendungstechnik war es stets, die Forschungschemiker der chemischen und pharmazeutischen Industrie zur Entwicklung neuer Synthesen mit Cyanamid anzuregen, um damit neue und zukunftsorientierte Einsatzmöglichkeiten für die Cyanamid-Chemie zu ermöglichen. Ein dazu passender Leitgedanke aus den 1980er Jahren lautete: „SKW liefert mit Cyanamid die Früchte, aus denen die Kunden vielerlei Konfitüren herstellen!“