Gründerzeit und Gründerkrise

1873

Die Reichsgründung im Jahr 1871 hatte die Umstellung auf die Markwährung, die einheitliche Reichsgoldwährung, zur Folge. Sie machte alle Gulden und Taler der deutschen Kleinstaaten ungültig. Für die neu zu prägenden, auf Mark und Pfennige lautenden Münzen mußte zunächst das Edelmetall aus dem außer Kurs gesetzten Geld zurückgewonnen werden. Für die zu erwartenden großen Scheideaufträge war die Frankfurter Firma Friedrich Roessler Söhne zwar technisch gerüstet, doch mangelte es ihr an Kapital, da das Deutsche Reich bedeutende Garantien verlangte. Deshalb entschlossen sich die Brüder Hector und Heinrich Roessler, ihre Firma in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln: am 28. Januar 1873 wurde die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt vormals Roessler gegründet.

1875

Der erste Auslandsstützpunkt der Deutschen Gold- und Silber-Scheideanstalt entstand in Österreich. Louis Roessler, der fünfte Sohn des Münzwardeins, errichtete in Wien eine Vertretung. Aus diesen Anfängen ging in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts nach mehreren Zwischenstationen und der Aufnahme einer eigenen Produktion die Louis Roessler Ges.m.b.H. hervor, die nach dem Anschluß Österreichs an Hitler-Deutschland mit anderen Wiener Stützpunkten 1940 zu einer Zweigniederlassung der Deutschen Gold- und Silber-Scheideanstalt zusammengefasst wurde. Sie fiel nach dem Zweiten Weltkrieg als „deutsches Eigentum“ an die damlige Sowjetunion und kam infolge des Österreichischen Staatsvertrags (1955) in den Besitz des Staates Österreich. Das Unternehmen wurde über eine Holdinggesellschaft von der nachmaligen Degussa zurückgekauft und in Österreichische Gold- und Silber-Scheideanstalt vormals Roessler umbenannt.

Die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt versicherte ihre Arbeiter „sowohl gegen temporäre als dauernde Arbeitsunfähigkeit“ bei der Allgemeinen Versicherungsbank in Leipzig. Die gesetzliche Kranken- und Unfallversicherungspflicht wurde erst acht, bzw. neun Jahre später in Deutschland eingeführt.

Der Tod des Firmengründers Theodor Goldschmidt am 4. Januar traf die Chemische Fabrik Th. Goldschmidt mitten in der sogenannten Gründerkrise empfindlich. Die schlechte Lage des Berliner Textilgewerbes hatte bereits 1873 einen Höhepunkt erreicht, nachdem 1871 die hochentwickelte Textilindustrie Elsaß-Lothringens als Konkurrenz hinzukam. Die Folge waren zahlreiche Konkurse, darunter auch jener der Firma R. Goldschmidt & Söhne. Damit war für die Chemische Fabrik Th. Goldschmidt der Vorteil des Berliner Standortes ins Gegenteil umgeschlagen; die Kunden saßen nunmehr im Westen des jungen Deutschen Reiches. Beim Tod des Vaters waren die Söhne Karl und Hans noch minderjährig. Eine treuhänderische Unternehmensleitung durch ihren Schwager, den Chemiker und Afrikaforscher Otto Kersten, half, das Vakuum zu überbrücken. Unter Kersten blieb das in eine OHG umgewandelte Unternehmen in den vorgegebenen Bahnen; mit der Herstellung von Chlorzink kam allerdings eine neues, bedeutendes Arbeitsgebiet hinzu.

1880

Aufnahme der Produktion von feuerfestem Glanzgold zur Dekoration von Glas, Porzellan und Keramik nach einem von Heinrich Roessler entwickelten Verfahren. Das Glanzgoldgeschäft wurde zum Welterfolg. Die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt übernahm von den beiden Glanzgoldproduzenten, die es in Deutschland bereits gab, den Vertrieb und später auch die Produktion. Es kam zu langjährigen Vertretungsverträgen für Großbritannien, Frankreich und Rußland. Die Fabrikation weiterer keramischer Farben begann 1881 mit Porzellanmalerfarben, 1882 folgten Unterglasurfarben, 1930 verschiedene Poliersilber und 1931 die Herstellung von Glasurfritten. Mit einem breiten Angebot von Edelmetallpräparaten und Dekorfarben sowie von Farbkörpern, Fritten und Glasuren bis hin zu besonderen Rohstoffen entwickelte sich die vormalige Degussa zu einem der bedeutendsten Lieferanten für die keramische Industrie mit Produktionsstätten in der Bundesrepublik Deutschland - seit 1990 auch in Colditz/Sachsen -, in Italien, Frankreich, Spanien, Brasilien, in Mexiko und in Japan. 2001 wurde das Geschäft verkauft, da es nicht mehr zum Kerngeschäft gehörte.

1882

Franz Roessler, der sechste Sohn des Münzwardeins, begann in den USA - genauer im New Yorker Stadtteil Brooklyn - mit der Herstellung von Frankfurter Glanzgold. Die Fabrikation weiterer keramischer Farben, aber auch von Cyankalium, Aceton und Chloroform folgte. Daraus entstand 1889 die Firma Roessler & Hasslacher Chemical Company, New York, mit einer Produktionsstätte in Perth Amboy/New Jersey. In den folgenden Jahren wurden weitere Beteiligungsgesellschaften und eine Fabrik in Niagara Falls gegründet, die nach und nach das gesamte Produktionsprogramm der Deutschen Gold- und Silber-Scheideanstalt übernahmen. Die Unternehmen gingen jedoch durch Beschlagnahme im Ersten Weltkrieg verloren.

Da die damals gebräuchliche Schwefelsäurescheidung mit erhebichen Abluftproblemen behaftet war, entwickelte Heinrich Roessler ein „Verfahren zur Beseitigung der schwefligen Säure aus Hüttenrauch und Fabrikgasen durch Kupfervitriol und atmosphärische Luft“ und meldete es zum Patent an. Mit diesem Verfahren, das von anderen europäischen Scheideanstalten übernommen wurde, war zugleich ein Recycling-Prozess verbunden, nämlich die Rückgewinnung von Schwefelsäure.

Der junge Karl Goldschmidt übernahm als frisch promovierter Chemiker vorerst die alleinige Firmenleitung der Chemischen Fabrik Th. Goldschmidt. Ab 1888 teilten sich die Brüder Karl und Hans Goldschmidt für rund 30 Jahre die Verantwortung. Dabei kristallisierte sich schnell eine Arbeitsteilung heraus. Karl Goldschmidt verstand sich als Unternehmer und später auch als Sozialpolitiker, während der begnadete Chemiker Hans Goldschmidt die technische Entwicklung der Gesellschaft vorantrieb.

Im gleichen Jahr begannen bei Goldschmidt in Berlin Versuche zur Entzinnung von Weißblechabfällen. Zinn war in Europa ein überaus kostbarer, meist aus Südamerika importierter Rohstoff. Ein dünner Zinnüberzug veredelte gewöhnliche Bleche zu Weißblech; eine der Grundlagen der modernen Konsumgüterindustrie. Lange existierte kein Weg, das Zinn wieder vom Blech zu lösen. Dies wiederum war auch ein vielgehegter Wunsch der Eisen- und Stahlindustrie. Denn das neue Siemens-Martin-Verfahren zur Stahl(rück-)gewinnung verlangte nach großen Mengen Altmetall, wobei das Zinn jedoch ein unerwünschter Begleitstoff war.

1884

Die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt führte den Achtstundenarbeitstag ein, und zwar in Form der sogenannten Englischen Arbeitszeit. Das bedeutete: Zu den acht Stunden Arbeit kamen zwei Pausen von je einer halben Stunde hinzu, so daß der Mitarbeiter insgesamt neun Stunden im Unternehmen verbrachte. Erst 1918 wurde in Deutschland der Achtstundentag als Normalarbeitszeit durch Gesetz vorgeschrieben.

1885

Die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt stiftete einen Pensionsfonds für die Arbeiter, Angestellten und deren Hinterbliebene. Die Mitarbeiter mussten keine Beiträge zahlen. Nach Inkrafttreten des Reichsgesetzes zur Invaliditäts- und Altersversicherung für die Arbeiter am 1. Januar 1891 übernahm Degussa entsprechend ihrer bisherigen privaten Regelung für ihre versicherungspflichtigen Arbeiter auch die Zahlung des gesetzlichen Arbeitnehmeranteils.

Wilhelm Merton, Gründer der Metallgesellschaft AG in Frankfurt am Main, stiftete als Aufsichtsratsmitglied der Deutschen Gold- und Silber-Scheideanstalt 1894 die „Spezial-Pensions-Reserve“, um „den Arbeitern und Angestellten in solchen Fällen, in denen die vorhandenen Versicherungen einen Anspruch auf Entschädigung nicht vorsehen, Beihilfen zu gewähren“.

1887

Die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt errichtete an der Schneidwallgasse in Frankfurt am Main - in unmittelbarer Nähe zum Scheidebetrieb - den ersten Verwaltungsneubau mit Direktionsräumen und Sitzungszimmern sowie Büroräumen für kaufmännische Angestellte, dazu eine „Fernsprechzentrale“. 1905 ließ das Unternehmen ein weiteres Bürogebäude an der Weißfrauenstraße bauen. Beide Häuser wurden im Zweiten Weltkrieg (1944) zerstört. An der Weißfrauenstraße in der noch stark zerstörten Frankfurter Innenstadt entstand jedoch abermals ein Verwaltungsbau, der 1950 bezogen wurde. Weitere Gebäude folgten: das „Hochhaus“ am heutigen Willy-Brandt-Platz, dazu die Gebäude an der Seckbächer Gasse, am Main und in der Neuen Mainzer Straße. Auf dem von diesen Gebäuden eingeschlossenen Gelände begannen 1981 die Bauarbeiten für die Neugestaltung des heutigen Standortes Frankfurt, damals Degussa-Hauptverwaltung. Der Kreuzbau wurde 1984, der Südbau mit Betriebsrestaurant zwei Jahre später bezogen.

1888

Bernard Frederick Laporte die B. Laporte Chemical Manufacturer and Drysalter, eine Produktionsfirma für Wasserstoffperoxide, die als Bleichmittel in der Textilindustrie eingesetzt wurden. Aufgrund des großen und raschen Erfolges entstand bereits zehn Jahre später ein neues Werk in Luton, nördlich von London. Das starke Unternehmenswachstum führte 1908 zur Gründung der B. Laporte Ltd. Noch vor dem Ersten Weltkrieg wurden mit Natriumperborat, schwefliger Säure und Blanc Fixe (für die Papier- und Gummindustrie) neue Produkte angeboten, ab 1917 auch Bariumperoxid. Auch nach dem Tod des Gründers 1924 blieb Laporte zunächst ein noch kleines Unternehmen, ein typischer Zulieferer, hauptsächlich der Textilindustrie.

1889

Mit der Einführung der elektrolytischen Entzinnung gebührt der Chemischen Fabrik Th. Goldschmidt der Verdienst, das erste industriell verwertbare und zugleich rentable Verfahren zur Wiedergewinnung von Zinn aus Weißblech entwickelt zu haben. Die Konsequenzen waren einschneidend: eine notwendige Vergrößerung der Berliner Fabrik, die nunmehr rund 60 Arbeiter beschäftigte, war nicht mehr möglich und die Absatzmärkte sowohl für das Zinn als auch für das entzinnte Blech befanden sich überwiegend im rheinisch-westfälischen Industrierevier. Die erforderliche Betriebsverlagerung begann 1889 mit dem Ankauf eines verkehrsgünstigen Geländes nördlich der Stadt Essen. Noch im gleichen Jahr wurden die Bauarbeiten aufgenommen.

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