Gründung auf der "grünen Wiese"

Lülsdorf

Die Geschichte des Werkes Lülsdorf reicht zurück zum 7. November 1912. An diesem Tag erfolgte die Gründung der „Deutsche Wildermannwerke, chemische Fabriken GmbH“, einer Tochterfirma des riesigen Stinnes-Konzerns „auf der grünen Wiese“. Namensgeber und Teilhaber war der Chemiker Dr. Meyer-Wildermann. Das von ihm entwickelte Verfahren einer Kali- und Natriumelektrolyse, - Hugo Stinnes hatte es 1910 in der Zellstoff-Fabrik Waldhof bei Mannheim kennen gelernt - bildete das Herzstück der neuen Firma. Die Kali- und Natriumelektrolyse diente dem Stromabsatz aus dem Stinneseigenen Braunkohlekraftwerk „Vorgebirgszentrale“. Die weiteren Teilhaber der Deutschen Wildermannwerke waren ebenfalls Tochterfirmen des Stinnes-Konzerns: Die Deutsch-Luxemburgische-Bergwerks- und Hütten AG, die Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk AG (RWE) und die Gewerkschaft Zeche Mathias Stinnes.

Wirtschaftsgeographisch günstig, weil hochwasserfrei auf dem rechten Rheinufer gegenüber von Wesseling bei Köln, lag das Gelände der neuen Fabrik. Allerdings konnten in der näheren Umgebung keine Arbeitskräfte angeworben werden. Die Bevölkerung lehnte den Bau der Elektrolyse ab und bevorzugte stattdessen eine Tätigkeit in der Landwirtschaft. Daher wurden die Arbeitskräfte aus einem größeren Umkreis angeworben und in eigens errichteten Wohnsiedlungen untergebracht.

Die von Dr. Meyer-Wildermann entwickelten nach ihm benannten Zellen benötigten eine Auskleidung aus hochwertigem Gummi. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges und den damit verbundenen alliierten Blockaden konnte dieser hochwertige Gummi noch bis 1916 durch ein Handels-U-Boot aus den USA beschafft werden. Auf Anraten seines Vertriebsleiters Friedrich-Wilhelm Minoux plante Hugo Stinnes ab 1917 den Übergang auf die wirtschaftlich günstigeren Siemens-Billiter-Zellen. Dr. Meyer-Wildermann stellte sich diesem Vorgehen erfolglos entgegen und wurde schließlich von Friedrich-Wilhelm Minoux als Geschäftsführer der Wildermannwerke abgelöst. Das Werk in Lülsdorf produzierte während des Ersten Weltkrieges neben den Elektrolyse-Produkten vor allem Kaliumchlorat, das u. a. in der Sprengstoff-Herstellung Verwendung fand.

Werk Lülsdorf, Luftbild von Südosten

1920, im Zuge einer grundlegenden Umstrukturierung des Stinnes-Konzerns, wurde das Lülsdorfer Werk Bestandteil der 1917 gegründeten „Koholyt AG“. In dieser Gesellschaft hatte Hugo Stinnes sen. alle Kohle-, Holzverarbeitungs- und elektrolytischen Verfahren zusammengefasst. Geschäftsführer wurde abermals Friedrich-Wilhelm Minoux.

Die Herstellung von Korund, das vor allem als Schleifmittel in der eisenverarbeitenden Industrie eingesetzt wird, wurde im Verlauf der 1920er Jahre mehr und mehr in Lülsdorf konzentriert und ausgebaut. Erst 1995 endete die Korund-Produktion.

Am 10. April 1924 starb Hugo Stinnes sen. und hinterließ einen weitverzweigten aber zahlungsunfähigen Konzern, der lediglich über Kredite finanziert war. Als Teil der Koholyt AG gelangte das Werk in Lülsdorf 1926 in den Besitz der englischen Firma Inveresk-Paper Co. Ltd..

Während der Weltwirtschaftskrise erwarb das damals größte deutsche Zellstoff- und Papier-Unternehmen Feldmühle AG die Koholyt AG 1930. Das Werk Lülsdorf firmierte fortan als "Feldmühle, Papier- und Zellstoffwerke AG Werk Koholyt Lülsdorf“. Die neuen Eigentümer weiteten die bisherige Produktion nochmals aus.

Im Zweiten Weltkrieg wurden zunehmend Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus der Ukraine, Polen, Italien, Belgien, den Niederlanden und Spanien in Lülsdorf eingesetzt.

Expansion nach dem Zweiten Weltkrieg

1950 wurde die Produktionspalette um Pottasche erweitert, für die sich Hugo Stinnes jun. als Vorsitzender des Aufsichtsrates der Feldmühle AG besonders einsetzte. Der Bau einer Raffinerie war zwar geplant, wurde aber nicht realisiert, da er die Finanzkraft des Unternehmens überstiegen hätte.

Je größer die Lülsdorfer Produktion im Laufe der Jahre wurde, desto mehr Mitarbeiter stellte man ein, die neue, werkseigene Häuser bezogen. Bereits 1919 waren so viele Menschen ansässig, dass man eine eigene Baracke für gesellschaftliche Veranstaltungen und Tanzabende errichtete. 1920 erfolgte die Gründung des „Männergesangvereins der Deutschen Wildermann-Werke Lülsdorf am Rhein“, der unter anderem Namen bis heute existiert.

Ein einschneidender Namenswechsel erfolgte in Lülsdorf zum Jahresende 1959, als die Feldmühle AG einen bedeutenden Anteil an der „Dynamit Aktiengesellschaft vorm. Alfred Nobel & Co.“ erwarb. Das Werk Lülsdorf wurde in einen neuen Produktionsverbund integriert, was 1962 auch gesellschaftsrechtliche Folgen hatte: Das Werk hieß fortan „Dynamit Nobel AG, Werk Feldmühle Lülsdorf“, weil es von der Feldmühle AG verpachtet worden war. Für Dynamit Nobel, einen Hersteller von Polyvinylchlorid, war die Chlorelektrolyse der Lülsdorfer besonders wertvoll, da durch sie das bis dahin zugekaufte Monomer Vinylchlorid selbst produziert werden konnte. Ab 1963 wurde zudem über einen Düker, einem Rohrleitungsbündel unter dem Rhein, Ethylen aus der Raffinerie in Wesseling, der heutigen Shell (vormals UK Wesseling), ins Werk Lülsdorf transportiert. Auf diese Weise konnte man dort auch 1,2-Dichlorethan (EDC), ein Vorprodukt für Vinylchlorid, herstellen.

Ausdehnung der Produktpalette

Die Ablösung von der bloßen Grundstoff-Produktion begann in Lülsdorf bereits 1953/54, als man die Forschung an Alkali-Alkoholaten als Folgeprodukte der Elektrolyse aufnahm. Der Produktionsstart erfolgte 1957. Das Hinzutreten von Natriumaluminat bedeutete den Einstieg in eine Spezialitätenchemie der Elektrolyse. Zwischen 1959 und 2000 setzte das Werk Lülsdorf diese Strategie fort. Ab 1962 wurden die Alkoholate zu den heute noch produzierten Orthoestern Trimethylorthoformiat (TMOF) und Triethylorthoformiat (TEOF) weiterverarbeitet. Aus dem Dynamit Nobel-Werk Witten kam 1967 die Produktion von Dimethylterephthalat (DMT), einem Polyester-Vorprodukt, hinzu. Das Werk Lülsdorf erreichte zu diesem Zeitpunkt die weiteste Ausdehnung seiner Produktpalette. In den folgenden Jahren wurden die bestehenden Produktionen erweitert und der Konzernverbund ausgebaut.

1968 erwarb Dynamit Nobel von der Feldmühle AG das bis dahin gepachtete Gelände. Das Werk Lülsdorf hieß fortan „Dynamit Nobel AG, Werk Lülsdorf". 1988 wurde es zusammen mit dem Chemieteil der Dynamit Nobel AG an die Hüls AG verkauft und firmierte bis 1999 unter dem Namen „Hüls AG, Werk Lülsdorf“. Danach war es ein Werk der Degussa-Hüls AG bzw. der Degussa AG, Düsseldorf. Seit September 2007 ist das Werk Lülsdorf ein wichtiger Standort von Evonik Industries.